Ein künstlerisches Forschungsprojekt gefördert vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

Menschen – Kreativität – Solidarität – Inspiration

Was motivierte einen österreichischen Komponisten und eine Musikerin aus Taipei zur Zusammenarbeit mit den Tao, einer indigenen Community auf der Orchideeninsel (Lanyu)? Neugier? Oder die Faszination einer wunderschönen Insel und eines Gesangsstils, der so speziell ist, dass westliche Notenschrift ihn nicht erfassen kann? War es die Suche nach Inspiration?

Seit 2005 besuchen Bratschistin Wei-Ya Lin, die später Ethnomusikologin wurde, und Johannes Kretz, ein Komponist mit Fokus auf elektronischer Klangproduktion, regelmäßig die Tao-Community. Sie sammeln Lieder, machen Interviews, versuchen, die Verbindung zwischen Singen und Leben der Tao zu verstehen. Ein Ergebnis davon war die Forschung, die in die Dissertation Musik im Leben der Tao: Tradition und Innovation (2015) von Wei-Ya Lin mündete. Andere Ergebnisse waren Kompositionen von Johannes Kretz, die traditionelle Tao-Gesänge und europäische zeitgenössische Kunstmusik zusammenführen.

2016 führte diese Zusammenarbeit zur Realisierung des abendfüllenden Tanztheaters Maataw – the floating island am Nationalen Theater in Taipei. Es präsentierte nicht nur die Schönheiten von dem Leben, dem Tanz und der Musik der Tao, sondern legte – auf kritische, emotionale und politische Weise – den Finger auf die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Anliegen dieser Community.

2018 wurde der nächste Schritt durch eine Dreijahresförderung des FWF (PEEK-Programm) des künstlerischen Forschungsprojekts Kreative (Miss)Verständnisse – Methodologien der Inspiration an der mdw ermöglicht. Ausgangspunkt ist dabei die Frage, ob das Verstehen immer dazu geeignet ist, Menschen zu verbinden; oder umgekehrt, ob Missverständnisse immer trennend wirken müssen. Von 2018 bis 2021 verfolgt das Projekt mit mehreren wechselseitigen Besuchen der Projektteilnehmer_innen aus Taiwan und Österreich und gemeinsamen Workshops, künstlerischer Forschung, Improvisation, Komposition und Performance mehrere Ziele: Durch das Verbinden von Vergangenheit und Zukunft soll die Tao-Community in ihrer kulturellen Identität gestärkt, der Bruch zwischen den Generationen gemildert und eine mögliche Basis dafür gelegt werden, dass die Tao ihre Traditionen – auch durch etwaige Transformationen ihrer Praxen – vor dem völligen Verschwinden bewahren können.

V. l. n. r.: Chien Hsiang Lin, Hui Ye, Wei-Ya Lin, Samu Gryllus, Zheng Kuo, Johannes Kretz, Hsinya Huang, I-Ming Liao, Chien-Ping Kuo © Wolfgang Liebhart

Weiters werden Komponist_innen europäischer zeitgenössischer Kunstmusik Methodologien entwickeln, die es ihnen ermöglichen, skalierbare Kompositionen zu realisieren, deren musikalische Ideen und Inhalte in verschiedenen Manifestationen umgesetzt werden können, welche dann in den verschiedenen Kontexten von Zuhörer_innen verstanden und geschätzt werden können. Durch die Förderung des FWF können diese Fragen in einem größeren Team von indigenen und nicht-indigenen aus Taiwan und Österreich künstlerisch Forschenden angegangen werden. Neben den Projektleiter_innen (Johannes Kretz und Wei-Ya Lin) arbeiten im Kernteam Samu Gryllus, Wolfgang Liebhart, Ming Wang, Hui Ye, Syaman Vongayan (Han-Name: Chien-Ping Kuo), Si Pehbowen (Han-Name: Zheng Kuo), Sinan Sakayan und Chien-Hsiang Lin zusammen, unterstützt und beraten von Sandeep Bhagwati, Iris ter Schiphorst, Bernd Brabec de Mori, Marc-Antoine Camp, Cheng-Hsien Yang, Tasos Zembylas, Fang-Yi Lin, Chiao-Hua Chang und Daliah Hindler.

So kann der Raum zwischen Verstehen und Missverstehen in unterschiedlichsten Perspektiven ausgelotet, und dessen Bedeutung für das Leben der Menschen klarer verortet werden. Dies erfordert viel Reflexion, Sensibilität und das Einbeziehen von methodischen und ethischen Fragestellungen. Inspiration erhält hier eine modifizierte Bedeutung: wechselseitig wertgeschätzter, absichtlicher und reziproker künstlerischer Einfluss auf der Basis von Solidarität. Dabei wird durchaus auch zu kreativen Missverständnissen in der Interaktion zwischen Forschung und künstlerischen Praxen ermutigt. Beides, Verstehen und Missverstehen kann zu positiven Entdeckungen und Inspiration führen, nicht nur im Künstlerischen, sondern auch in Form von neuen Forschungsfragen und gesellschaftlich wirksamen Initiativen.

In den ersten beiden intensiven Workshopphasen im Januar 2019 in Wien und im August und September 2019 auf der Orchideeninsel ergaben sich bereits wichtige Erkenntnisse, Erfahrungen und Arbeitsfelder: Auf der Basis von Feldforschung mit Zugängen aus der Ethnomusikologie und künstlerischen Forschung gelang es, erste Bereiche des Tao-Repertoires zu identifizieren, welche sowohl für angewandte Ethnomusikologie als auch für allfällige künstlerische und soziomusikalische Transformationen verwendbar sein könnten. Erste Interventionen, die die verschiedenen Tao-Generationen ebenso wie die Musikschaffenden aus Europa verbinden, führten zu vielversprechenden Ergebnissen.

Ein auf Deutsch, aber im Tao-Gesangsstil Anood gesungenes Höflichkeitslied eines Österreichers bei einem mehrtägigen Hausfertigungsfest der Tao – welches dreifach mit Antwortliedern bedacht wurde – eröffnet Zugänge für die weitere Zusammenarbeit. Die Entdeckung eines weiteren, bisher von der Grundlagenforschung noch nicht dokumentierten Gesangstypus der Tao bringt neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Das Projekt, als Erkennungssignal für die Müllabfuhr auf Lanyu, anstelle des in Taiwan üblichen synthetischen Abspielens des Beginns von Beethovens Für Elise eine kulturell und ästhetisch adäquatere Alternative zu entwickeln, ist sowohl künstlerisch als auch kulturpolitisch eine interessante Initiative. Noch lässt sich nicht sagen, wie sich die vielen Elemente des Projekts letztlich zu einer gemeinsamen künstlerischen Skulptur (im Sinne von Beuys) verbinden werden. Aber vielversprechende erste Schritte wurden bereits gesetzt.

mdw.ac.at/creativemisunderstandings

 

 

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