Ein wissenschaftlicher Beitrag zu mdw 200

Formenlehre 1925
Fotografie der Formenlehre-Klasse Richard Stöhr, 1925 ©Privatbesitz: Hedi Ballantyne (Kopie im Archiv der mdw)

200 Jahre mdw sind zweifellos ein Anlass, sich der Geschichte dieser Institution mit einem kritischen Blick zu nähern: Geschichte wurde und wird ja meist „von oben“ erzählt, Jubiläen werden daher zum Anlass genommen, um die eigenen Verdienste ins rechte Licht zu rücken. Die entsprechende Darstellung folgt dabei dem Muster einer „Heldenerzählung“, die unausgesprochen den Standpunkt von (meist männlichen) Herrscherfiguren, Führern und „Meistern“ wiedergibt. Eine solche Perspektive gilt unter ExpertInnen aber in ihrer Einseitigkeit als veraltet und nicht sachgemäß. Auch für die ruhmreiche Geschichte der mdw gilt, dass sie von vielen gestaltet wurde und wird – von Studierenden und Lehrenden, vom Verwaltungspersonal, von Personen unterschiedlicher geografischer und sozialer Herkunft sowie verschiedener kultureller Prägung – deren Befindlichkeiten, Eindrücke und Leistungen werden in auf Repräsentation ausgerichteten historischen Darstellungen aber wenig bis kaum berücksichtigt. Zudem fungierte die mdw im Laufe ihrer Entwicklung immer auch als Symbol kultureller Ideale, als Projektionsfläche für unterschiedliche Vorstellungen, Wünsche und Sehnsüchte.

Um die Identität der Institution beschreibbar zu machen und gleichzeitig aus der derart reflektierten, vielfältigen Tradition Anregungen für eine Diskussion zukünftiger Strategien zu bieten, werden im Rahmen eines vom Rektorat mit einjähriger Laufzeit geförderten wissenschaftlichen Projekts diese vielfältigen Bilder und Zugänge sichtbar gemacht. Eine Präsentation am 15. Mai bietet einen Überblick über die Ergebnisse der Arbeit, die anschließend in Form von sechs „Pop-ups“ an verschiedenen Orten der mdw zugänglich gemacht werden.

„Bi-Musikalität“ + „Bilderwelten“ = „Changing mdw“

Geforscht wurde aus der Perspektive zwei verschiedener Fachrichtungen: Von musikethnologischer Seite lag der Schwerpunkt auf der Bi-/Multimusikalität von Studierenden beziehungsweise AbsolventInnen, das heißt auf deren Fähigkeit, sich in mehreren musikalischen Sprachen und Stilen zu artikulieren. Interviews und Tonaufnahmen lieferten Material, aus dem sich mittels (anonymisierter) Statements und Musikaufnahmen Einsichten zur Bedeutung dieser Qualität in Studium und Karriere sowie für das Selbstverständnis als MusikerIn ableiten lassen.

Golnar Shahyar
Golnar Shahyar ©Ina Aydogan

In einem weiteren Schritt ergibt sich aus der Betrachtung der so gewonnenen Befunde ein Zugang zur Präsentation einer musikalischen Vielfalt, die an der mdw in höchster Qualität praktiziert und gelehrt werden könnte. Durch das individuelle Überschreiten von Grenzen und Durchqueren unterschiedlichster Vorstellungsräume werden Facetten der transkulturellen Verfasstheit der mdw deutlich – der Fokus auf Bi- und Multimusikalität ist somit ein Instrument zur Veranschaulichung des Potenzials musikalischer Vielfalt an der heutigen mdw.

Für den musikwissenschaftlichen Projektteil (Bilderwelten) wurden in Vergangenheit und Gegenwart agierende Personen, die sich in ständiger Wechselwirkung mit der mdw befanden und befinden und die damit auch das Selbstverständnis der Institution mitbestimmt und geprägt haben, als Zeugen für mit der mdw verbundene Vorstellungen und Befindlichkeiten betrachtet. Ihre unterschiedlichen (musikalischen) Sozialisationen, persönlichen Sichtweisen, Werthaltungen und Vorstellungen sowie ihre Erfahrungen und Interaktionen an und mit der mdw wurden mittels Interviews erfasst. Deren Auswertung ergibt Einsichten in symbolische Bedeutungen, Identitäten sowie in ästhetische und gesellschaftliche Bilder, die mit dem Schauplatz mdw verbunden und gleichzeitig für die jeweilige politische und soziokulturelle Situation charakteristisch sind: Die Institution wird dadurch im historischen Zusammenhang verortet. Die archivierten Interviewaufnahmen können als Grundbestand eines audiovisuellen Gedächtnisspeichers der mdw angesehen werden und über das laufende Projekt hinaus vielfältiger, interdisziplinärer beziehungsweise kunstbasierter Auswertung zur Verfügung stehen.

Die inhaltliche Nähe beider Projekte bedingt die gemeinsame Erarbeitung von „Interventionen“ im öffentlichen Raum der mdw. Die Veröffentlichung von Ergebnissen des Projekts erfolgt in Form von sechs thematisch konzentrierten Schlaglichtern, die jeweils an unterschiedlichen Orten der Institution zu sehen sein werden und die breite Auswertbarkeit des gesammelten Materials vor Augen und Ohren führen:

1. „Gute Musik – wahre Kunst“
An der mdw wurden und werden ästhetische Normen durchgesetzt. Die (großteils unreflektierte) Privilegierung des klassisch-romantischen Repertoires ist ebenso zu hinterfragen wie die Ausrichtung der Ausbildungsziele (Habitus, technische Fähigkeiten, Geschmack, Repertoireauswahl, Stilistik) hinsichtlich der Angleichung an damit verbundene Standards.

2. (Un-)Gleichgewichte
Angesichts der aktuellen Betonung von Diversität an der mdw wird die Vielfalt anhand von traditionell wirksamen hierarchischen Unterscheidungen thematisiert: (un)bewusste (Ab-)Wertungen von sozialen, geschlechtsspezifischen und ethnischen Merkmalen, aber auch von Stilen, Instrumenten etc.

3. Einschlüsse – Ausschlüsse
Die mdw entwickelte sich aus einer ihrem Wesen nach exklusiven Musikkultur, die auf dem Ausschluss vieler zugunsten einer kleinen Elite basierte. Einschlüsse und Ausschlüsse aufgrund unausgesprochener Hierarchisierungen vollziehen sich auch heute noch im Rahmen diverser Auswahlverfahren (Zulassungs- und anderer Prüfungen etc.) und manifestieren sich in der Zusammensetzung des Personals.

4. Import – Export
Die mdw wurde vielfach als kulturelles Zentrum mit internationaler Anziehungskraft gesehen. So gab es immer wieder Ansätze, die hier vertretene Kultur „missionarisch“ in die Welt hinauszutragen. Die Gegenüberstellung älterer und neuerer Beispiele zeigt dabei auftretende Kontinuitäten und Veränderungen im Selbstverständnis der mdw.

5. „Ernste“ Musik?
Seit der Gründung der mdw spielt der Gegensatz von Bildung und Unterhaltung eine Schlüsselrolle. Während die damit verbundene Wertung in der Frühzeit unhinterfragte Gültigkeit besaß, stellt sich angesichts wachsender musikalischer Diversität die Frage nach den vorgeblichen und tatsächlichen Veränderungen.

6. Tradition – Innovation
Die Verbindung der Schlagworte „Innovation“ und „Tradition“ steht bis heute im Zentrum des Leitbildes der mdw. Während einerseits Initiativen wie die Förderung von Transkulturalität einen zeitgemäßen Ansatz verfolgen, lässt sich das Spannungsfeld beider Begriffe an diversen Aspekten des täglichen Betriebs erkennen (z. B.: „Alte“ und „Neue“ Musik, Fortschrittsdenken im Kompositionsunterricht …).

  • Projektleitung: Ursula Hemetek und Cornelia Szabó-Knotik
  • Mitarbeit: Thomas Asanger, Lena Dražić, Alexander Flor, Wei-Ya Lin, Severin Matiasovits, Hande Sağlam, Erwin Strouhal
  • Kooperation: Julia Heimerdinger, Anita Mayer-Hirzberger

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