Die Frage, ob Ökologie und Musikschaffen etwas miteinander zu tun haben, würden wohl viele von uns ohne Zögern mit Ja beantworten. Im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen fällt auf, dass die diesbezügliche Debatte von höchster Aktualität ist. Dabei gibt es den Begriff „Ökologie“ eigentlich noch nicht lange – er stammt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Traum eines Anschmiegens an die Natur, eines Lauschens auf deren innere Triebkräfte und Geheimnisse ist aber wohl viel älter – wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst.
Im Lauf der Geschichte haben sich die Vorstellung von Natur und damit das Verhältnis der Musikschaffenden zur Natur fortwährend gewandelt. Ein Beispiel: Claude Debussys La Mer (1905) unterscheidet sich grundsätzlich von Naturdarstellungen der Musik des 18. und 19. Jahrhunderts wie etwa Ludwig van Beethovens Pastorale. Debussy belausche – so der französische Philosoph und Musikschriftsteller Vladimir Jankélévitch – „die Brust des Ozeans und das Atmen der Gezeiten, das Herz des Meeres und der Erde“. In La Mer sei „das Gesicht der menschlichen Person vollständig verschwunden“, es sei „ein Gedicht der anonymen Elemente und der unmenschlichen Himmelserscheinungen“.1 Für Jankélévitch klingt Debussys Musik also, als verschwinde der Mensch hinter der Natur. Wie kommt es zu dieser Wahrnehmungshaltung? Ist in dieser Musik noch ein kompositorisches Subjekt spürbar? Oder ist sie einem unbekannten „Gegenüber“ abgelauscht?
Derartige Fragen wurden nach 1945 aktuell und verbanden sich mit ökologischen Debatten. Im Gegensatz zu früheren Zeiten, als so manche der Überzeugung waren, die Natur sei als beherrschbare Instanz aufzufassen, suchte man dieses scheinbar fremdartige Terrain nun besser kennenzulernen. Allmählich tastete man sich an die Zielsetzung heran, Mensch und Natur im Rahmen einer „Allianztechnik“ (Ernst Bloch) als Bestandteile eines übergreifenden Ganzen aufzufassen.
So vertrat etwa James Gibson in The Ecological Approach to Visual Perception (1979) einen Ansatz, demgemäß Natur nicht als „Anderes“, sondern als integraler Teil unserer Sinneswelt gelten sollte. Von den Ideen Gibsons wurden nicht nur Wissenschaftler_innen, sondern auch Komponist_innen wie Gérard Grisey oder Salvatore Sciarrino beeinflusst.
Bei Grisey findet sich in den 1970er-Jahren eine kompositorisch-ökologische Perspektive, die auch heute noch bei nicht wenigen Komponist_innen weiterwirkt.2 Grisey begriff Klänge nicht als beherrsch- und austauschbare „Parameter“, sondern als Lebewesen mit einer Geburt, einem Leben und einem Tod. Er gehörte einer Generation an, die es erstmals zustande brachte, das Innenleben der Klänge mikroskopisch zu erfassen. Dadurch realisierte er, dass das aller Natur zugrundeliegende Prinzip des Entstehens und Vergehens auch die Zeitlichkeit der Klänge in ihrem Innersten konstituiert.
Auch Sciarrino bringt in seinen Texten und Werkkommentaren den Begriff Ökologie zur Sprache. Dabei geht er von einer Einheit von Subjekt und Objekt sowie einer untrennbaren Verflechtung der Sinne aus. Sciarrinos Ansatz besteht darin, Klänge nicht bloß (dem Wortsinn entsprechend) zu „komponieren“, also zusammenzustellen, sondern – darin ist er Grisey sehr nahe – die Eigenart der Klänge und die Funktionsweise der Wahrnehmung zu erforschen und nachhaltig zu berücksichtigen.
Man kann sich dies etwa folgendermaßen vorstellen: Klänge stellen den Hörerinnen und Hörern Angebote (oder, wie Gibson sagen würde: „Affordanzen“) bereit. Zugleich werfen die Wahrnehmenden „ihre Netze aus“ (Sciarrino) und sind für manche dieser Angebote empfänglich. In diesem Wechselspiel findet unsere Begegnung mit der klingenden Welt statt. Zu bedenken ist dabei, dass jeder Mensch anders wahrnimmt und seine Netze auf individuelle Weise auswirft. Vor diesem Hintergrund verweist der Begriff „sdoppiamento“ (Spaltung) auf den Versuch des Komponisten, sich vom eigenen Selbst zu distanzieren und ein inneres Bündnis mit der Hörerin/dem Hörer zu schließen. Als Folge dieses – auf Empathie fußenden – kollektiven Wahrnehmungsprozesses wird Hören zu einer übergreifenden Sinneswahrnehmung, die letztendlich zu einer „Vision“ des Ganzen führt.
Eine weitere Möglichkeit, sich dieser Ganzheitlichkeit anzunähern, bietet der Begriff „Atmosphäre“, den Gernot Böhme 1995 in den Mittelpunkt seiner gleichnamigen Studie stellt. Böhme bezieht hier jene Wechselwirkungen mit ein, die eine atmosphärische Einheit von Mensch und Natur mit sich bringt: „Die Atmosphäre ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen.“3
Wenden wir uns vor diesem Hintergrund noch einmal der Musik Sciarrinos zu: In der Oper Luci mie traditrici (dt.: Die tödliche Blume) ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen unmittelbar zu spüren. Alle Sinne werden aktiviert: Den visuellen Impulsen, die uns von der Bühne her erreichen, entsprechen Instrumentalklänge, die eine körperliche Wirkung auf uns ausüben. Je nachdem, ob wir uns in der Morgenröte, der Mittagshelle oder Abenddämmerung befinden, wird die Natur anders zum Klingen gebracht. Diese atmosphärischen Klangtransformationen bilden eine Analogie zur inneren Dramatik der Handlung. Natur und Mensch formen eine Einheit. Der Ausgang dieses Projekts ist jedoch offen. Am Schluss von Sciarrinos Oper stellt sich der Eindruck ein, als sei die Allianz als schicksalshaft-ausweglose Verstrickung zu deuten. Der Mensch ist ein Abgrund, eingebunden in eine dunkel-abgründige Natur.
Gibt es heutzutage so etwas wie ein „ökologisches Komponieren“? Einerseits könnte man mit Recht behaupten, dass etwa Soundscapes einem solchen Anspruch nahekommen. Andererseits sollte man die Relation zwischen Musik und Ökologie nicht zu eng fassen. Denn heute ist grundsätzlich jede Kunstausübung aufgerufen, Formen des Miteinanders zwischen Kunst und Natur, Subjekt und Objekt, Denken und Fühlen auszuloten und historisch überlieferte Dichotomien kritisch zu hinterfragen. Dieser Prozess ist längst im Gange.4 Er ist unaufhaltsam und bezieht sich auf alle zeitgenössischen Kunstformen. – Man wird sehen, wohin er führt.
- Vladimir Jankélévitch, Die Musik und das Unaussprechliche, Berlin 2016, S. 59.
- Vgl. Daniel Smutny, »Musik als ökologische Praxis«, in: www.daniel-smutny.de/texte/musik-als-oekologische-praxis-2021 (3. 10. 2024).
- Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt/M. 1995, S. 34.
- Siehe z. B. Aaron S. Allen und Kevin Dawe, Current Directions in Ecomusicology, New York – London 2017.