Vorträge

 

Co-creating opera

Ein Ansatz für musikalische Inklusion auf Basis der Menschenrechte

Die Aufklärung teilte die europäische Kultur in die schönen Künste und den Rest ein. Die erste Kategorie - ursprünglich Musik, Tanz, Malerei, Bildhauerei, Poesie und Architektur - wurde seither behutsam erneuert, so dass sie nun auch Fotografie und Jazz umfasst, aber die Klasseneinteilung bleibt bestehen. Daraus ergeben sich zwei alternative Visionen von Kultur in der Gesellschaft: eine von oben nach unten und erzieherisch, die andere von unten nach oben und emanzipatorisch. Sie bestehen seit dem 19. Jahrhundert, aber ihre jüngsten Namen sind Demokratisierung von Kultur und kulturelle Demokratie. Ihre unterschiedlichen Visionen sind nach wie vor widersprüchlich und ungelöst und tragen zu einer entpolitisierten Kulturpolitik und einem Sektor bei, der von Transformation spricht, aber im Stillstand verharrt.
Wenn es einen Weg nach vorne gibt, dann liegt er darin, Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 ernst zu nehmen, der besagt, dass jeder das Recht hat, frei am kulturellen Leben der Gemeinschaft teilzunehmen und sich an der Kunst zu erfreuen. Kulturpolitik und kulturelles Handeln auf Basis der Menschenrechte könnte ganz anders aussehen als der Paternalismus des derzeitigen Systems. Eine ihrer Ausdrucksformen ist die Ko-Kreation, bei der professionelle und nicht-professionelle Künstler gleichberechtigt zusammenarbeiten - ein Prozess, der im Jahr 2022 zur Aufführung von drei neuen Opern im Rahmen des Projekts Traction führte. Der Vortrag wird diese Erfahrung als Fallstudie nutzen, um sowohl die Notwendigkeit eines grundlegenden Überdenkens bestehender Ansätze in der Kulturpolitik (und insbesondere in der Musikvermittlung) als auch die innovative künstlerische Landschaft aufzuzeigen, die ein solches Überdenken ermöglicht. www.co-art.eu 

François Matarasso

François Matarasso (Frankreich/Vereinigtes Königreich) ist Communit Artist, Schriftsteller und Forscher. Sein 1997 veröffentlichter Bericht "Use or Ornament? The Social Impact of Participation in the Arts" hat einflussreiche Konzepte für die Kulturpolitik bereitgestellt und seine nachfolgenden Arbeiten wurden vielfach veröffentlicht und übersetzt. Er hat für Stiftungen, Kultureinrichtungen und öffentliche Stellen in rund 40 Ländern gearbeitet; er war Kurator bei NESTA, Arts Council England und der Baring Foundation und hatte Ehrenprofessuren in Großbritannien und Australien inne. Zwischen 2011 und 2015 beschäftigte er sich unter dem Sammeltitel "Regular Marvels" mit unterbewerteten Bereichen des kulturellen Lebens. Sein neuestes Buch "A Restless Art – How participation won and why it matters" wurde 2019 veröffentlicht. Er ist Partner von Traction (2020-22), das erforscht, wie Technologie die Ko-Kreation von Opern und soziale Inklusion unterstützen kann.

 

 

Perspektivwechsel als Anstoß für gesellschaftliche Transformation?

Zur Bedeutung und Ausgestaltung von Begegnungen in Musikangeboten mit straffällig gewordenen und/oder gefährdeten Jugendlichen

Wird der Musikvermittlung ein sozial-transformatorisches Potenzial zugeschrieben, so muss sich diese in Beziehung setzen zur Gesellschaft: Sie muss in der Lage sein, Begegnungen zwischen Menschen mit unterschiedlichen biografischen, sozialen und kulturellen Hintergründen zu initiieren, deren Wege sich in der Regel eher nicht kreuzen würden. 
Dieser Beitrag diskutiert, inwieweit initiierte Begegnungen zwischen verschiedenen Menschengruppen in Musikangeboten an Jugendstraf- und Arrestanstalten sozial-transformierend wirken können. Finden Musikangebote in diesem Kontext in unterschiedlicher Art und Dimension statt, so gibt der Beitrag Einblicke in das sich hier eröffnende Handlungsfeld, mitsamt der Rahmenbedingungen und Spezifika des Kontexts sowie dem Umgang mit der Zielgruppe. Hierbei wird diskutiert, inwieweit hier gemachte Erfahrungen nicht nur bei straffällig gewordenen und / oder diesbezüglich gefährdeten jungen Menschen, sondern bei allen Beteiligten Spuren hinterlassen können, die bestenfalls sozial-transformatorisch wirken. So können Begegnungen zwischen den in die Musikangebote eingebundenen Menschen wertvolle Perspektivwechsel anregen und damit einhergehend das kritische Hinterfragen und Korrigieren eigener Überzeugungen und Handlungsmuster. 

Annette Ziegenmeyer

Annette Ziegenmeyer ist Professorin für Musikpädagogik an der Musikhochschule Lübeck, wo sie auch das Zentrum für Lehrkräftebildung leitet. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem die Kompositionspädagogik (internationale Perspektive), Community Music und der Themenbereich Musik im Strafvollzug. Neben der aktiven Mitarbeit in Netzwerken und Verbänden (z.B. Allianz für Lehrkräftebildung, Schleswig-Holstein; Kompetenzzentrum für musikalische Bildung, Schleswig-Holstein; Bundesverband Musikunterricht e.V., Schleswig-Holstein) ist sie Mitherausgeberin der Diskussion Musikpädagogik

Julia Peters

Die Geigerin Julia Peters absolvierte ihr Musikstudium zunächst an der HfMT Hamburg und schließlich an der Musikhochschule Lübeck. Bereits zu Beginn des Studiums entschloss sie sich für einen instrumentalpädagogischen Schwerpunkt und folgte 2002 einer Einladung nach Südafrika, wo sie im Rahmen des International Classical Music Festival Kinder und Jugendliche in den Townships von Kapstadt und Johannesburg unterrichtete. Kurz darauf folgte sie einer Einladung der „Fundaciòn Orquestas Juveniles e Infantiles“ nach Chile. Ihre instrumentalpädagogische Arbeit umfasste hier die Probenarbeit mit zwölf verschiedener Jugendorchestern sowie die Konzeption und Leitung von Didaktik-Seminaren für Instrumentalpädagog*innen. Zurück in Deutschland war sie von 2005 – 2009 Dozentin an Musikschule und Akademie des Hamburger Konservatorium bevor sie als Dozentin für Violine und Kammermusik an das Internat Birklehof im Schwarzwald wechselte. 2019 hat Julia Peters als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HfM Detmold im Netzwerk Musikhochschulen begonnen. Ihre Tätigkeit in diesem Projekt setzte sie 2020 an der Musikhochschule Lübeck fort, an der sie die Stabstelle für Qualitätsmanagement und Studiengangentwicklung besetzt. In dieser Zeit absolvierte sie zudem berufsbegleitend einen Master „Hochschul- und Wissenschaftsmanagement“ und berät Lehrende u.a. in Fragen der strategischen Studiengangentwicklung.

 


 

Othering-Mechanismen vs. Empowerment  

Auf dem Weg zu einer dekolonialen Handlungsmacht in der Musikvermittlung?

Musikvermittlung schafft „vielfältige Beziehungen zwischen Menschen und Musik" und ist typischerweise „für spezielle Dialoggruppen konzipiert" (Petri Preis & Voit, in Kürze erscheinend). Inzwischen scheint sich das Konzept der Dialoggruppe gegenüber dem der eher monodirektionalen Zielgruppe durchgesetzt zu haben, um z.B. den Aushandlungsprozessen in Musikvermittlungskontexten Rechnung zu tragen. Dabei geht es nach wie vor um die Definition und Einbeziehung von (heterogenen) Gruppen (vgl. Schippling & Voit, in Kürze erscheinend). In meinem Vortrag werden die sozialen und kulturellen erkenntnistheoretischen Grundlagen verschiedener Gruppenkonzepte skizziert, ihr möglicher Zusammenhang mit sozialen Ungleichheiten und aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen sowie Bemühungen um Empowerment im kulturellen Bereich diskutiert. Diese dekolonialen Ansätze, die die individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit in den Mittelpunkt stellen, und ihre mögliche Bedeutung für die Praxis der Musikvermittlung bilden einen abschließenden Ausblick.

Lisa Gaupp

Lisa Gaupp ist Professorin für Cultural Institutions Studies an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Sie studierte Kulturwissenschaften sowie Interkulturelle & Internationale Studien in Lüneburg und Barcelona und promovierte in Musikethnologie an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. An der Leuphana Universität Lüneburg vertrat sie die Professur für Kultursoziologie und wurde in Soziologie der Kultur und der Künste habilitiert. Ihre Forschungen wurden mit zahlreichen Stipendien gefördert, und ihre Publikationen erhielten mehrere Auszeichnungen. Lisa Gaupp lebte in den USA, Guatemala, Haiti und Spanien, war 2009 Organisatorische Leiterin des Internationalen Joseph-Joachim-Violin-Wettbewerbs der Stiftung Niedersachsen in Hannover und hat drei Kinder.

 

 

Artistic Citzenship: Wer darf mitmachen?

Wie verhält sich das Konzept von Citizenship zu den Künsten, der kulturellen Bildung und der kulturellen Produktion? Wer darf an einer Musikpraxis teilnehmen, und wer darf darüber entscheiden? Welchen Zwecken und Kontexten kann das Musizieren/Musikmachen dienen? Kann Musizieren ein Vermittler für die Aushandlungsprozesse zwischen den musikalischen Erfahrungen des Einzelnen und größeren soziokulturellen Beziehungen oder ähnlichen Formen des gesellschaftlichen Engagements sein? Können hegemoniale Diskurse, die aus asymmetrischen Machtverhältnissen in unseren Ansätzen zu Kunst, Künstlertum, Staatsbürgerschaft und sogar den Bildungseinrichtungen resultieren, die diese Konzepte reproduzieren und somit konkretisieren, in Frage gestellt werden?
Elliot, Silverman und Bowman (2016) schlagen vor, dass das Konzept der Artistic Citizenship erfasst, in welcher Verbindung Kunst zu “civic–social–humanistic–emancipatory responsibilities, obligations to engage in art making that advances social “goods” (8) steht. In diesem Vortrag werden verschiedene Ansätze zu "Kunst/Künstler/Künstlertum" und "Citizen/Citizenship" sowie die Implikationen des zusammengesetzten Begriffs "Artistic Citizenship" untersucht. Ein Ausgangspunkt ist, dass das Konzept der Citizenship als Prozess und nicht als Position, als Praxis und nicht als Status verstanden werden kann, wenn wir Tully (2014) folgen und Citizenship “as negotiated practices, as praxis—as actors and activities in contexts” (35) betrachten, durch die Individuen und Gemeinschaften durch nachhaltiges kollektives Engagement sinnvolle Formen der Citizenship einfordern können. Diese kollaborativen Praktiken gelten auch im Kontext künstlerischer Gemeinschaften, und die Künste können solche Gelegenheiten bieten, dieses umfassendere Verständnis von Citizenship neu zu definieren und zu erproben, sei es durch Performance oder umfassendere Formen der Beteiligung, ähnlich wie Smalls (1998) Definition von musicking.

Maria Westvall

Maria Westvall ist Professorin für Musikpädagogik am Rhythmic Music Conservatory (RMC) in Kopenhagen, Dänemark. Ihre Forschung konzentriert sich auf Musikpädagogik in einer weiten Perspektive, einschließlich Aspekten von interkulturellen Ansätzen, Community Music, populärer Musik und Migration und sie hat mehrere Forschungsprojekte zu diesen Themen geleitet. Maria hat ihre Forschung in einer Reihe von internationalen Kontexten vorgestellt und in Büchern und wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht, darunter Music Education Research, British Journal of Music Education, Journal of Music Teacher Education, International Journal of Community Music, Música em perspectiva, El oído pensante, Intercultural Education, Action, Criticism & Theory for Music Education, Nordic Research in Music Education, Danish Musicology Online und das Finnish Journal of Music Education. Derzeit ist sie Direktorin des Copenhagen Centre for Research in Artistic Citizenship (CReArC).

 

 

Transformation der Musikhochschulbildung

Systemisches Lernen durch Gegennarrative sozial engagierter, finnischer Musiker_innen

Partizipatives, sozial-relationales Musizieren ist ein wachsendes Feld in der Musiikvermittlung, das sich mit Themen befasst, die von sozial engagiertem, verantwortungsvollem und wirkungsvollem Musizieren bis hin zu artistic citizenship und dem Engagement von Musikern für Aufgaben in der Gesellschaft reichen. Diese Praktiken sind in der Regel in der Hierarchie der universitären Musikausbildung niedriger angesiedelt und gelten als weniger prestigeträchtig als die etablierten Praktiken im Konzertsaal. Die Forschung hat jedoch gezeigt, dass sozial engagiertes Musizieren in hohem Maße werteorientiert sowie persönlich und künstlerisch lohnend und lehrreich für die Musiker_innen selbst sein kann.
In diesem Kapitel wird untersucht, wie sich die sozial-relationalen Praktiken auf die Überzeugungen der Praktiker_innen von Musik und Musikalität ausgewirkt haben. Analysiert werden Interviews mit zwölf Musiker_innen im finnischen Kontext, die alle einen Hochschulabschluss in Musikpädagogik und Erfahrung mit sozial engagierten Praktiken haben. Die Ergebnisse zeigen, dass die Musiker_innen ihre Berichte als Gegenerzählungen konstruierten, die ihr kritisches Bewusstsein für Elitismus, ungesunden Wettbewerb, Ausgrenzung und Hierarchien offenbaren, die sich in einer zu engen musikalischen Spezialisierung durch die Konzentration auf ein einziges Instrument und Genre, einem Mangel an Improvisation und einer kontrollorientierten Aufführungspraxis manifestieren. Für die Befragten erforderte ihre Arbeit ein Verlernen früherer Haltungen, Überzeugungen und Konventionen und eine neue Positionierung gegenüber Vielfalt und Unterschiedlichkeit sowie eines Anerkennens einer Vielzahl von Qualitätskriterien für menschliche musikalische Beziehungen. Das sozial-transformative positive Potenzial des relationalen Musizierens wird nicht nur aus der Perspektive der Teilnehmer_innen, sondern auch aus der von professionellen Musiker_innen herausgestrichen.
Konzeptionell setzt die Analyse "Systembewusstsein" in Beziehung zu "sozial-relationaler" und "sozio-politischer Ästhetik". Wir argumentieren, dass die Arbeit von sozial engagierten Musiker_innenn ein kritisches "Systemlernen" fördern kann, das wiederum das professionelle Feld in die Lage versetzen kann, seinen Blick über Traditionen, musikalische Genres und erlernte mentale Modelle hinaus zu öffnen und die Musikhochschulbildung und die Gesellschaft insgesamt zu verändern. Die Studie ist Teil eines größeren, vom Vereinigten Königreich finanzierten Projekts mit dem Titel "Music for Social Impact: practitioners' contexts, work, and beliefs", bei dem Musiker_innen aus dem Vereinigten Königreich, Belgien, Kolumbien und Finnland befragt wurden.

Heidi Westerlund

Heidi Westerlund arbeitet seit 2004 als Professorin an der Sibelius-Akademie, Universität der Künste Helsinki, Finnland, wo sie für musikpädagogische Doktoratsstudien zuständig ist. Für die Jahre 2021-23 wurde sie außerdem zur außerordentlichen Professorin (Forschung) an der Monash University ernannt. Zu ihren Forschungsinteressen gehören kulturelle Hochschulbildung, Musiklehrer_innenausbildung, kollaboratives Lernen, kulturelle Vielfalt und Demokratie in der Musikpädagogik. Sie hat zahlreiche Publikationen in internationalen Fachzeitschriften und Büchern veröffentlicht und ist Chefredakteurin des Finnish Journal of Music Education. Sie ist Mitherausgeberin von beispielsweise Collaborative learning in higher music education (2013, Ashgate), Visions for Intercultural Music Teacher Education (2020, Springer), Politics of Diversity in Music Education (2021, Springer) und Expanding Professionalism in Music and Higher Music Education - A Changing Game (2021, Routledge). Derzeit ist sie Lead-PI von Music Education, Professionalism, and Eco-Politics (EcoPolitics, 2021-25), finanziert von der Academy of Finland, und Co-PI in Music for social impact: practitioners' contexts, work, and beliefs (2020-22), finanziert vom Arts and Humanities Research Council, UK.

Sari Karttunen

Sari Karttunen, Doktorin der Sozialwissenschaften, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Künste Helsinki und als Senior Researcher am Zentrum für Kulturpolitikforschung CUPORE. Außerdem ist sie außerordentliche Professorin für Kulturpolitik an der Universität Jyväskylä, Finnland. Ihre Spezialgebiete sind die Soziologie der künstlerischen Berufe sowie die Erstellung und Kritik von Kulturstatistiken und anderen Wissensgrundlagen für die Kulturpolitik. Zu ihren aktuellen Interessen gehören die Praxis der community art und die Feminisierung der künstlerischen Berufe. Von 2017-19 fungierte sie als Co-Koordinatorin und von 2019-21 als Koordinatorin des Forschungsnetzwerks Sociology of the Arts der European Sociological Association.