Welche Bedeutung musikalische Erinnerungsarbeit heute hat und wie Vermittlungsarbeit von verfemter Musik ohne Zeitzeug_innen aussehen kann: Darüber hat Priska Seidl mit Volker Ahmels und Gerold Gruber im Rahmen des Festivals Verfemte Musik in Schwerin gesprochen.

Was verstehen Sie unter dem Begriff verfemter Musik?

Volker Ahmels (VA): Wenn man von Verfolgung, Ermordung, Exil spricht, meint man häufig, dass es nur jüdische Menschen waren, die es betroffen hat. Das ist einfach nicht korrekt. Es gibt eben verschiedenste Formen der Verfolgung. Es gab Leute, die nicht jüdisch waren, die in die innere Emigration gegangen sind. Es gab Leute, die wie Thomas Mann letztendlich aus Protest gegen Hitler das Land verlassen haben, oder Strawinsky, der eben in Paris lebte. Als er dann die Gefahr merkte, ist er auch emigriert. Wir haben uns überlegt, welcher Begriff umfasst das alles? Und so kam es dann zu verfemte Musik.

Volker Ahmels, Zentrum für Verfemte Musik an der hmt Rostock © privat Volker Ahmels

Welche verfemten Musiker_innen und Komponist_innen werden von Ihnen beforscht?

Gerold Gruber (GG): Wir haben uns für die durch die Nationalsozialisten Verfolgten, Verfemten, Ermordeten entschieden. Weil das einfach aufgearbeitet werden muss, weil es für uns wahnsinnig wichtig ist, sich mit denen auseinanderzusetzen. Natürlich werde ich immer wieder gefragt: Und was ist mit den Stalinopfern? Dann sage ich: Ja, würde ich wahnsinnig gerne machen. Wenn ihr mir noch fünf Posten gebt, dann kann ich beginnen, mich damit auseinanderzusetzen.

VA: Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der zumindest aus unserer deutschen Sicht sehr wichtig ist: Wir sind letztendlich die Nachfahren derjenigen, die Verantwortung tragen. Wir haben immer gesagt, wir können es nicht wieder gut machen; was geschehen ist, ist geschehen. Aber wir haben die Verantwortung – für uns selbst und für nachfolgende Generationen.

GG: Das Gleiche gilt für Österreich. Und das wird durch die Unterstützung, die wir durch den Nationalfonds der Republik Österreich bekommen, in erster Linie den Opfern gegeben. Aber das Faktum ist, dass die Opfer immer weniger werden. Deshalb unterstützen wir die unterschiedlichsten Aktivitäten. Das muss nicht nur Musik sein.

Welche Impulse kann das Festival, das auf eine lange Tradition zurückblickt, für unsere heutige Zeit geben?

GG: Wir wollen einfach, dass dieses musikalische Repertoire, das wir vertreten, das wir erst einmal suchen, finden, editieren und verbreiten müssen, in das Repertoire der normalen Konzertsäle hineinkommt. Weil diese Musik vergessen wurde, aber auch von den Nationalsozialisten bewusst in die Vergessenheit gedrängt worden ist. Wenn wir zulassen, dass diese Musik vergessen bleibt, dann haben die Nazis gesiegt. Und das dürfen wir nicht zulassen. Also tun wir alles, um diese Musik wieder lebendig werden zu lassen. Und das geht natürlich für uns als Musiker_innen am leichtesten. Wir stellen uns hin und spielen diesen Wettbewerb oder schauen, dass wir oft im Radio vorkommen. Wir wollen dieses Thema einfach dauernd am Brodeln lassen.

VA: Es war immer unser Anliegen, dass die Musikschiene etwas ganz Wichtiges ist, weil wir ja nun mal Musiker sind. Ich habe gemeinsam mit meiner Frau Friederike Haufe auch ein Projekt entwickelt, bei dem wir in die verschiedensten Schulen gehen. Ob das nun die achte Klasse eines bayrischen Gymnasiums ist oder hier in Mecklenburg-Vorpommern eine Waldorfschule. Wir geben und moderieren ein Schulkonzert mit Komponist_innen, die uns wichtig sind, und erklären den Kindern entsprechend des Bildungsstandes, wie es den Komponist_innen ergangen ist. Aber das muss man behutsam machen. Wir studieren die Werke, die wir vorgespielt haben, mit den Kindern zusammen ein. Zum Schluss gibt es ein großes Konzert, alle Kinder treten auf. Das macht richtig Spaß und funktioniert total gut. Die Kinder sind absolut begeistert. Diese Form der Vermittlung ist jetzt unheimlich wichtig geworden, weil die Zeitzeug_innen nicht mehr da sind. Die stehen uns normalerweise nicht mehr für Gespräche zur Verfügung, weil sie einfach verstorben sind. Unsere langjährige Partnerschaft und Freundschaft (zwischen Ahmels und Gruber, Anm. d. Red.) hat auch diesen akademischen Bereich mit einbezogen. Wir haben in diesem Jahr ein spezielles Thema gehabt und einfach die andere Seite beleuchtet: Die Profiteure und Profiteurinnen. Warum sind eigentlich diese ganzen Stellen … Die sind dann ja mit Nazis besetzt worden!

GG: Mit Nazis besetzt worden und nach 1945 nicht zurückgeholt! Sondern die Leute sind einfach geblieben.

Gerold Gruber, Exilarte Zentrum für verfolgte Musik (mdw) © Julia Wesely

VA: Sie haben sich auch teilweise perfide rausgeredet, dass sie nur Mitläufer_innen waren. Das war eine ganz schlimme Zeit nach dem Krieg.

GG: Bei uns an der mdw waren so viele, die aus der Nazizeit noch geblieben sind und hochbetagt und hochverehrt und noch mit Preisen beglückt wurden. Also das war unglaublich.

VA: Ich bin in Hamburg in den 70er-Jahren zur Schule gegangen und wir hatten teilweise richtige Nazi-Lehrende, die von den verlorenen Ostgebieten sprachen. Und dann kam ich irgendwann in Kontakt mit Paul Kling. Das war ein unfassbar vornehmer, kultivierter, herausragender Musiker, Musikpädagoge, der als Jugendlicher nach Theresienstadt deportiert wurde. Der hat aber schon als Wunderkind mit den Wiener Symphonikern mit acht Jahren irgendwelche Geigenkonzerte gespielt. Dann ist er später nach Auschwitz deportiert worden und später auch in andere Lager. Und er hat immer auch Glück gehabt, dass er nicht ermordet wurde. Immer, wenn ihn Leute nach seiner Arbeit fragten, wusste er: „Wenn ich jetzt sage, ich bin Musiker, dann bin ich gleich weg.“ Und da hat er gesagt, er könnte irgendwelche handwerklichen Dinge machen. Deswegen hat er es geschafft zu überleben. Dann habe ich den Schulleiter gefragt, ob das nicht mal interessant wäre, mal mit einem Menschen zu sprechen, der das alles erlebt hat. Daraus wurde eine Tradition, in der die ganzen Zeitzeug_innen immer die Schulen besuchten. Die Schüler_innen waren völlig fasziniert, weil sie einfach einen anderen Zugang hatten. Wenn die Zeitzeug_innen nicht mehr da sind, müssen wir andere Wege finden.

Zum Abschluss: Gibt es persönliche Favoriten, eine_n Künstler_in, die/den man unbedingt gehört haben sollte?

VA: Da können wir jetzt 50 bis 100 aufzählen!

GG: Von uns aus gesehen würde ich Hans Winterberg nennen, der in Theresienstadt Komponist war. Andere seiner Kolleg_innen sind im Oktober 44 nach Auschwitz deportiert und ermordet worden. Alle quasi. Ich bin sicher, dass er das im Jänner 1945 gehört hat von den Mitinsass_innen. Das waren alles seine Freund_innen, Bekannte, Studienkolleg_innen. Das muss man sich vorstellen! Und diese Geschichte geht weiter! Und deswegen erzähle ich sie auch hier, weil das für die heutige Zeit wichtig ist. Er war deutschsprachiger Prager Jude, ich erwähne die Beneš-Dekrete, und ist dann ins Exil nach Deutschland gegangen und hat dort reüssiert. Er ist dann als Komponist in die Gemeinschaft der Sudetendeutschen, war dort ein angesehener Bürger. Sein Stiefsohn hat seinen Nachlass in das Sudetendeutsche Musikinstitut nach Regensburg gegeben. Dieser Nachlass muss dort 30 Jahre versperrt werden und es darf nicht erwähnt werden, dass er Jude ist. Also das ist wirklich, das ist Antisemitismus. Da nimmt man ihm wieder die Menschenwürde, die man ihm schon einmal in Theresienstadt genommen hat. Und wir kämpfen mit dem Enkel Peter Greifmayer gemeinsam, dass dieses Werk von Hans Winterberg endlich aus Regensburg rauskommt, dass wir das für vier, fünf Jahre bekommen und wissenschaftlich bearbeiten können. Und dann, wenn Bayern das wieder will, kann es wieder zurück. Ich sage Bayern, weil das Sudetendeutsche Musikinstitut ein Bayrisches Staatsinstitut ist.

VA: Das kommentiere ich jetzt nicht. Aber ich glaube, es wird deutlich, wie komplex das Ganze ist. Natürlich hat jeder seine Vorlieben. Aber ich sage mal, was wir machen, ist: Wir zeigen, dass es die Komponist_innen gibt und bringen das der Öffentlichkeit nah. Was dann passiert, ob sich die Werke durchsetzen oder nicht, das ist nicht unser Ding. Aber wir haben ihnen die Chance gegeben. Und das ist ganz wichtig, dass sozusagen das, was unsere Vorfahren versucht haben …

GG: Zu verhindern …

VA: … das ist unsere Aufgabe, dass wir zumindest das zugänglich machen und einen Weg finden, sich damit auseinanderzusetzen. Und ob das in 50 Jahren noch jemanden interessiert, wie, was, wo ein_e Komponist_in komponierte, das ist dann nachrangig. Aber sie haben durch uns die Möglichkeit bekommen bekannt zu werden.

Info

Das Festival Verfemte Musik beinhaltet verschiedene Inhalte und Formate: Einen Interpretationswettbewerb, Konzerte, eine Schönberg-Ausstellung sowie einen akademischen Tag. Als begleitendes pädagogisches Projekt zum Festival setzten sich Musikerziehungsstudierende in einer Lehrveranstaltung von Priska Seidl an der mdw ein Semester lang mit sinnlichen Zugängen zu Arnold Schönbergs Musik auseinander. Die dabei entstandenen Vermittlungskonzepte wurden in Partnerschulen in Wien und Schwerin umgesetzt.

verfemtemusik.de
exilarte.org
hmt-rostock.de/hochschule/zentrum-fuer-verfemte-musik

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