Ab Oktober wird der international gefeierte Dirigent Andrés Orozco-Estrada (44) an der mdw unterrichten. Wie er das konkret angehen möchte, erklärt er im Gespräch.

Während seiner internationalen Karriere nahm sich Orozco-Estrada immer Zeit, den musikalischen Nachwuchs zu fördern, sei es in Zusammenarbeit mit jungen Orchestern oder bei Masterclasses, die er weltweit gehalten hat. Bereits mit 15 Jahren begann Orozco-Estrada seinen Dirigierunterricht, damals lebte er noch in Medellín, Kolumbien. 1997 ging er zum Studium nach Wien an die mdw und besuchte die Klasse von Uroš Lajovic. Ab Oktober kehrt er nun in anderer Rolle zurück an die mdw: Er wird selbst Dirigieren unterrichten.

Wie haben Sie Ihre Studienzeit in Erinnerung?

Andrés Orozco-Estrada (AOE): Für mich waren das die schönsten und aufregendsten Jahre in meinem Leben. Damals gab es noch den Schilling, und die Universität für Musik und darstellende Kunst hieß Hochschule. Ich kam gerade aus Kolumbien nach Wien. Jeder Tag war ein Abenteuer, es gab so viel Neues zu entdecken, nicht nur beim Studium, sondern auch die Sprache, die Mentalität, das Essen. Ich musste mich erst akklimatisieren.

Wie ging es Ihnen mit dem Deutschlernen?

AOE: Ich muss gestehen, das war nicht leicht. Uroš Lajovic, bei dem ich in der Dirigierklasse gewesen bin, sprach hochdeutsch, das ging gut. Aber es gab auch Lehrer, die extrem im Dialekt geredet haben. Ich erinnere mich da vor allem an meinen Lehrer für Chor. Ich habe oft nicht einmal die Hälfte verstanden. Weil er recht streng war, habe ich mich nicht getraut nachzufragen.

Ab Herbst unterrichten Sie selbst Dirigieren. Werden Sie denn auch streng sein?

AOE: Es ist eine absolute Ehre für mich, dass ich an dieser Universität unterrichten darf. Eine altmodische Art von Strenge interessiert mich allerdings gar nicht. Ich bin nicht der Typ, der schreit oder schimpft. Aber natürlich werde ich kritisch sein. Die Studierenden sollen verstehen, was die Verantwortung ist, die man als Dirigent_in hat. Dann beginnt man, mit sich selbst streng zu sein. Die eigene Disziplin habe ich auch hier an der Universität gelernt. Das möchte ich versuchen weiterzugeben.

© Martin Sigmund

Es bringt also gar nichts, wenn nur die Lehrenden streng sind, aber man selbst keine Disziplin aufbringt?

AOE: Wichtig ist, welche Einstellung man in sich trägt, welche Mentalität man für den Beruf entwickelt. Das Studium ist genau der richtige Moment, um diese zu entwickeln. Bevor ich nach Wien kam, hat mir meine erste Lehrerin gesagt: Das Dirigieren muss man im Bauch haben. Ich habe das am Anfang nicht verstanden. Aber mittlerweile ist mir klar, was sie gemeint hat. Im Bauch sitzen die Nerven und die Emotionen. Die muss man in den Griff bekommen. Man ist in diesem Beruf viel unterwegs, was auch nicht leicht ist.

Man muss resistent gegen Stress werden?

AOE: Unter anderem. Es geht darum, was das Umfeld von einem verlangt, was das Orchester möchte, aber auch, was man selbst von sich verlangt. Carlos Kleiber hatte angeblich oft Panik, auf die Bühne zu gehen, weil er meinte, er sei nicht gut genug. Auf der einen Seite braucht es diese Ehrfurcht und diese Bescheidenheit, um nach musikalischer Perfektion zu streben. Auf der anderen Seite benötigt man auf der Bühne oder im Orchestergraben ein gesundes Selbstbewusstsein. Diese Kombination ist wichtig, aber schwierig.

Sie haben bisher erstaunlich wenig über Technik gesprochen.

AOE: Das sind die Grundvoraussetzungen, sozusagen das Fundament, das man gemeinsam erarbeitet. Aber letztlich sind das nur Baumaterialien, daraus entsteht noch kein Haus. Das müssen die Studierenden wie Architekt_innen dann selbst planen und bauen. Sie müssen sich fragen: Was für eine Art Dirigent_in möchte ich werden? Da geht es stark um die eigene Persönlichkeit. Es dürfen ja nicht alle Häuser gleich ausschauen. Das wäre langweilig.

Sie müssen die jeweiligen Stärken und Schwächen Ihrer Studierenden herausfinden?

AOE: Ja, obwohl ich denke, dass das früher leichter war. Viele junge Dirigent_innen haben kein klares Vorbild. Das muss nicht schlecht sein, aber viele wissen gar nicht mehr, wohin sie wollen. Durch die Globalisierung ist es fast schwieriger geworden, eine Persönlichkeit zu entwickeln, weil alles möglich ist. Aber, um es deutlich zu sagen: Mich interessiert nicht, dass meine Studierenden so wie ich dirigieren. Sie sollen gut dirigieren, mit ihrer eigenen Persönlichkeit. Das ist das große Ziel, an dem ich arbeiten möchte.

Wie wichtig ist Talent?

AOE: Man muss in diesem Beruf dranbleiben, mit Hingabe und Disziplin. Ich habe schon während des Studiums Kolleg_innen erlebt, die hatten kein riesiges Talent, aber sie haben mit ganzer Leidenschaft gearbeitet und sind dadurch ihren Weg gegangen. Es hat vielleicht länger gedauert als bei den talentierten Dirigent_innen. Aber manchmal ist es sogar besser, man erreicht sein Ziel langsam. Und ist nicht schon in jungen Jahren ein Star.

Sind die Studierenden selbstbewusster als früher?

AOE: Selbstbewusstsein kann eine Täuschung sein. Wenn man Tausende Follower in den Sozialen Medien hat, hat man schnell das Gefühl, berühmt zu sein. Es gehört zum Studium, das zu relativieren. Das habe ich auch selbst erlebt. Ich habe meine Aufnahmeprüfung mit 19 bestanden, aber hatte davor schon mit 14 mein erstes Konzert dirigiert. Ich kam mit einem gewissen Selbstbewusstsein an die Universität, ich wusste, dass ich dirigieren kann. Ich erinnere mich noch genau, als ein Professor damals meinte: „Sie haben sehr viel Energie, aber jetzt beruhigen Sie sich erst einmal. Schlagen Sie präzise. Überlegen Sie: Was braucht das Orchester von Ihnen?“ Ich ging weinend nach Hause, nicht weil der Professor so gemein war, sondern weil ich erkennen musste, dass er recht hat. Dass ich nicht so viel kann, wie ich dachte.

Man muss also lernen, konstruktiv mit Kritik umzugehen?

AOE: Absolut. Ich weiß nicht, wie kritikfähig moderne Menschen sind. Das werde ich beim Unterrichten herausfinden. Fragen Sie mich in einem Jahr noch einmal, vielleicht sagen einige dann, ich sei zu streng. Aber was ich durch diese Kritik von meinem Lehrer damals gelernt habe, war nicht nur, dass ich Kritik annehmen kann, sondern, dass ich selbstkritisch werden musste. Das war eine der wichtigsten Lektionen für mich. Nur so kommt man weiter im Leben. Als Mensch. Und als Dirigent.

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