Teodor Currentzis, Arturo Toscanini oder Herbert von Karajan werden häufig als Diktatoren am Pult bezeichnet, denen ein demokratisches Führungsprinzip wie jenes von Bruno Walter, Marie Jacquot oder Johannes Wildner entgegengehalten werden kann. Aber muss ein Dirigent, eine Dirigentin heute anders arbeiten, und sind die Ansprüche an Dirigent_innen der Gegenwart verändert?

Bevor die Position des Dirigenten besetzt wurde, trafen Musiker vom Cembalo oder von der ersten Geige aus zentrale Entscheidungen über Tempo, Klang und Lautstärke.

Die Profession der Dirigent_innen ist im Vergleich zu jener der Komponist_innen noch jung, geht doch das Taktieren auf Jean-Baptiste Lully vor über 300 Jahren zurück. Lully gab schon Anweisungen mit einem Taktstock, der damals noch auf den Boden geschlagen wurde. Diese Urform des Batons aber war kausal für Lullys Ableben. Er soll nämlich versehentlich den schweren Stab auf seinen Fuß niederfahren haben lassen und an den Folgen verschieden sein. Carl Maria von Weber gilt mit dem Dirigat des Freischütz als weiterer Vorreiter für die Profession der Dirigent_innen.1 Richard Wagner2 sieht in seinem Text über sein Dirigieren das Tempo als zentrale Qualität des Kapellmeisters, denn „hier der Punkt sich findet, wo der Dirigent sich als den rechten oder den unrechten zu erkennen zu geben hat“.3

Marie Jacquot © Christian Jungwirth

Die Verwendung des Batons an sich sowie dessen Länge sind Geschmacksache, wie sich am Beispiel Waleri Gergijew veranschaulichen lässt, der Exemplare in der Länge eines Zahnstochers für tauglich hält. Der Taktstock kann aber auch als Mittel dienen, Zornesausbrüchen Form zu verleihen, wie es Arturo Toscanini häufig illustriert haben soll.4

Warum brauchen wir Dirigent_innen, wenn es doch erfolgreiche Ensembles wie etwa das Orpheus Chamber Orchestra oder das West-Eastern Divan Orchestra gibt, die ohne zentrale Leitung auskommen?5

Der Bedarf an Kapellmeister_innen besteht laut dem Dirigenten und Universitätsprofessor Johannes Wildner immer. Er sieht die Notwendigkeit eines allgemeinen Ordnungs- oder Führungsprinzips, das der Vielstimmigkeit des Orchesters einen roten Faden verleihen kann. Die Dirigentin und mdw Alumna Marie Jacquot sieht die Maxime der Dirigent_innen in der Einigung über die musikalische Interpretation. Durch das Engagement der Dirigent_innen werde laut Jacquot auch die Effektivität des Probenbetriebes erheblich gesteigert und Programme werden in einem kurzen Zeitraum aufführbar. Eine Effizienzsteigerung, die nur von Hans Knappertsbusch unterboten werden kann, denn „Kna“ war für das Unterlassen der Proben bekannt.

Wenn Elias Canetti Dirigent_innen als plakatives Beispiel der Macht beschreibt, drückt sich diese Macht einerseits in der Kontrolle über das Orchester, andererseits in der über das Publikum aus. Laut Canetti ist der Dirigent alleiniger Herrscher über „Leben und Tod der Stimmen“.6 Marie Jacquot sieht sich und ihre Profession jedoch viel eher in einer demokratisch-ordnenden Tradition. Sie beschreibt einen klaren Trend und eine Weiterentwicklung des Berufs, indem die Musiker_innen als Menschen gesehen werden und nicht als bloßer Klangkörper. Für Johannes Wildner geht es um das „Schaffen eines breiten, formativen Angebots“, das einen hohen Grad an Konsens zwischen dem Dirigat und den Musiker_innen schaffen soll. Als zeitgenössisches Gegengewicht zu demokratischen Ansätzen kann Teodor Currentzis positioniert werden. Ein Klangmeister, der ein Ideal des Ausdrucks in sich formt und das Ergebnis durch die Musiker_innen zu modellieren sucht, dabei jedoch Probenablauf, Dauer oder zu repetierende Stellen seinem Willen und Wunsch verpflichtet. Er ist auch für unkonventionelle Techniken bekannt, wie das Erlernen von barocken Tänzen, bevor ein Werk aus jener Epoche geprobt wird. Arturo Toscanini oder Herbert von Karajan können auch eher dem Pol der autokratischen Entscheidung am Pult zugeordnet werden, so Johannes Wildner.

Marie Jacquot sowie Johannes Wildner entstammen der Wiener Dirigierschule von Hans Swarowsky. Dieser legte vor allem Wert auf historisch-teleologische Interpretation und rigoroses Studium der Partitur und Geschichte des Werkes. Beim Auftritt und der Vorstellung vor Publikum, so Wildner, handle es sich aber nur um drei Prozent der Tätigkeit und Verpflichtung der Dirigent_innen. Die Routine der Profession beschreibt er folgendermaßen: „Man kommt zu einem Orchester oder zu einem Theater, probt und probt noch einmal, probt-general und führt auf – und führt Folge-Aufführungen auf.“

Die Dirigentin Marie Jacquot beschreibt ihren Alltag als abwechslungsreich, aufregend und bewegt, gibt jedoch zu bedenken, dass nicht alles so rosig sei. Denn es handle sich nicht nur um harte Arbeit, auch sei ihr Beruf einer normalen „Work-Life-Balance“ nicht unbedingt zuträglich und fordere viel Flexibilität.

Die Digitalisierung hat auch vor den Dirigent_innen nicht haltgemacht. Marie Jacquot ist multimedial gewandt, sie ist Gestalterin eines Podcasts und gern gesehener Gast in zahlreichen akustischen oder audiovisuellen Formaten. Außerdem ist die Dirigentin davon überzeugt, dass der Online-Auftritt wichtiger sei denn je, wobei nicht unbedingt die Musik immer im Mittelpunkt stehe. Johannes Wildner sieht einen Einzug der Technik in Unterricht und Spiel. Wobei der einfachere Vergleich der Dirigate eine Vielzahl an Möglichkeiten biete, sich zu informieren, der Wandel im Orchester sich z. B. im Gebrauch von Tablets statt Partituren und bluetoothfähigen Fußpedalen manifestiert. Er gibt zu bedenken, dass Interpret_innen daher doch immer ein Risiko des technischen Defektes und einer gewissen Abhängigkeit eingehen.

Johannes Wildner © Stephan Polzer

Laut Jacquot gehören ein kritischer Umgang mit Rassismus in historischen Werken, das Behandeln von Thematiken in Zusammenhang mit LGBTQ und die Auswahl der Komponist_innen des Repertoires zu den Anforderungen an Dirigent_innen von heute. Auf alle Fälle fordere der Beruf eine aktive Beschäftigung, Problematisierung und Information von den Meister_innen am Pult. Das wird auch in der öffentlichen Forderung nach Stellungnahmen in Zusammenhang mit dem Russisch-Ukrainischen Krieg sichtbar.7 Dirigent_innen kam auch in der Vergangenheit eine politische Dimension zu, heute wird aber vielleicht deren Handeln gesellschaftlich kritischer diskutiert und gesteht den Virtuos_innen keine allumfassende Immunität mehr zu.

  1. Gerhart von Westerman, Knaurs Konzertführer, Donauland, 1952, S. 478.
  2. Christian Thielemann, Mein Leben mit Wagner, C.H. Beck, 2012, S. 58.
  3. Richard Wagner, Über das Dirigieren, https://books.google.at/books?id=QkzfCAAAQBAJ, S. 535.
  4. Rudolf Augstein, Ein Dirigent, ja, das bin ich, Spiegel, 1977.
  5. Valeria Lucentini, Der Dirigent ist tot, Revue Musicale Suisse, 2017, S. 42.
  6. Elias Canetti, Masse und Macht, Fischer, 1994, S. 468.
  7. Axel Brüggemann, Liebe Sparkasse, hilf Teodor Currentzis, https://crescendo.de/klassikwoche10-2022-netrebko-gergiev-currentzis-1000298387
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