Seitdem unser politisches, gesellschaftliches und kulturelles Leben maßgeblich von den Auswirkungen der Pandemie geprägt ist, ist die Präsenz des Todes im öffentlichen Diskurs merkbar gestiegen. Regelmäßige Todesstatistiken, Sterbende auf Intensivstationen, der Verlust von Mitmenschen: Über den Tod wird wieder vermehrt gesprochen, er hat sich eine gewichtige Position im gesellschaftlichen Diskurs quasi rückerobert. Denn bis vor kurzer Zeit war im globalen Norden das Bewusstsein für unsere eigene Vergänglichkeit im alltäglichen Leben eher gering, insbesondere im urbanen Kontext. Nach und nach haben wir den Tod in Altenheime, Spitäler, Hospize ausgelagert, ihn zu einem Thema des Alters gemacht, über das wir uns ja später Gedanken machen können – dann, wenn es so weit ist.

Das betrifft auch die Rituale, mit denen wir dem Tod begegnen oder eben nicht begegnen können. Gerade die letzten Jahre haben gezeigt, wie wenig Routine wir im Umgang mit dem Tod haben. Uns fehlen erprobte Weisen, auf den Tod zu reagieren, ihm kulturell Bedeutung zu geben. Das trifft auch auf Musik zu. Mit der schwindenden Relevanz von Religion versuchen Trauernde häufig, durch die Auswahl von nicht sakraler Musik dem Abschiednehmen eine persönlichere Note zu verleihen.

Das zeigt beispielsweise die Best-of-Liste der Bestattung Wien zum Thema „Musik bei Trauerfeiern“. Die Empfehlungen spiegeln die statistische Häufung von für Trauerfeiern ausgewählten Musikstücken wider, die durchaus auch für den gesamtösterreichischen Kontext repräsentativ ist. Bezeichnenderweise in die Rubriken „Klassik“, „Pop“, „Volkslied“ und „Schlager“ unterteilt, sind Lieder wie Andrea Bocellis Time to say Goodbye (gelistet unter „Pop“), Frank Sinatras My Way oder auch Andreas Gabaliers Amoi seg’ ma uns wieder (beide gelistet unter „Schlager“) beliebte Dauerbrenner der zeitgenössischen Sepulkralmusik, um mit dem Fachterminus für Trauermusik auch auf die Umdeutung der Funktion dieser Songs zu verweisen. Die Bestattung Wien bietet in der Auflistung der Lieder gleich die Vermittlung passender Interpret_innen an: die Begräbnissänger_innen, eine Berufsgruppe, der vergleichsweise wenig gesellschaftliche Wertschätzung entgegengebracht wird, obwohl sie als professionelle Musiker_innen für den Klang der Trauer verantwortlich sind.

Wie sieht es aber mit der musikalischen Expressivität der Trauernden selbst aus? Sich künstlerisch auszudrücken wäre für den Prozess der Trauerverarbeitung zweifelsohne hilfreich. Die Hinterbliebenen bleiben aber still, und auch die Trauergäste verharren in „stiller Anteilnahme“, wie es heißt. Kaum vorstellbar, dass der Trauerschmerz artikuliert wird – in Form von stimmlicher Expressivität nach außen gelangt, hörbar wird. Auch das Sprechen über Tod wird ausgelagert. Trauerreden werden in Wien häufig von Trauerredner_innen vorgetragen, die bei der Bestattung Wien angestellt sind und die verstorbene Person nicht gekannt haben. All diese Phänomene machen das Bedürfnis von Trauernden deutlich, ein Begräbnis zu personalisieren – tatsächlich bleibt es im urbanen Kontext häufig bemerkenswert unpersönlich.

Vor allem im Vergleich zu Beispielen der musikalischen Trauer aus meinen ethnomusikologischen Forschungen bei der kroatischen Minderheit des Burgenlandes. Dass sich gerade bei dieser Community eine ausgeprägte musikalische Tradition zu Tod, Sterben und Trauer bis in die heutige Zeit gehalten hat, liegt nicht zuletzt an der Bedeutung des Katholizismus und entsprechender volksreligiöser Riten im Alltag burgenlandkroatischer Dörfer. Wesentlich ist aber die nicht immer friktionsfreie Identität als ethnische Minderheit. Stirbt ein Mitglied der dörflichen Community, dann führt dies auch zu einer kulturellen Rückbesinnung – das Kroatische und die daran geknüpften musikalischen Traditionen ermöglichen eine kulturelle Selbstvergewisserung der Lebenden im Angesicht des Todes. Das Singen der Totenwachtlieder am Vorabend des Begräbnisses ist ein gutes Beispiel dafür. Bis in die 1970er Jahre wurde Nächte hindurch beim im Haus aufgebahrten Leichnam gebetet und gesungen. Das burgenländische Leichenaufbahrungsgesetz verwies diese Tradition plötzlich aus dem privaten Raum in die in dieser Zeit in ganz Österreich neu errichteten Aufbahrungskapellen. Die Totenwache hat sich aber gehalten. Sie dauert zwar nicht mehr Nächte hindurch, aber immerhin einige Stunden am Vorabend des Begräbnisses, in denen die Dorfgemeinschaft Totenwachtlieder singt, mit denen sie von der verstorbenen Person Abschied nimmt – oder auch umgekehrt. So heißt es beispielsweise in einem der beliebtesten Totenwachtlieder:

Došla mi je ura skrajna, nosit te me van stanja.
[Meine letzte Stunde ist gekommen, ihr werdet mich aus dem Haus tragen.]

Svaki će pojt po vom putu, ptičic glasa već ne čut,
[Jeder wird diesen Weg gehen, die Vogelstimmen nicht mehr hören,]

ke ta spivat zvrhu mene, kad mi tijelo prah bude.
[die singen werden ober mir, wenn mein Leib Staub sein wird.]

Oder auch:

Zbogom moje sirotice, vi ste majku zgubile.
[Lebt wohl, meine armen Kinder, ihr habt die Mutter verloren.]

Für den Trauerprozess scheint es hilfreich, im Kollektiv diese über Generationen überlieferten Texte zu singen, in denen sich die verstorbene Person von jenen verabschiedet, die singend ihrer gedenken. Doch auch bei den Burgenlandkroat_innen verschwinden bestimmte musikalische Trauerrituale aus dem Begräbnisritus. Etwa das mittlerweile nur mehr selten erklingende Totenabschiedslied „Spričanje“, eine von den Hinterbliebenen bezahlte Auftragsdichtung, die von Lehrern, Kantoren oder Vorsänger_innen, die die verstorbene Person gekannt haben, bei der Totenwacht vorgesungen wurde (siehe Dobrovich und Enislidis, 1999). Im Text verabschiedet sich die verstorbene Person von allen Verwandten und Bekannten und thematisiert auch ihren eigenen Tod. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel aus dem Pinkatal ist das einer jungen Frau, deren Ertrinken in der Pinka nicht unbedingt Folge eines Unfalls, sondern auch endgültiger Ausweg aus prekären Lebensumständen gewesen sein mag.

I ja sam se prošla prikčera kupati,
[Und ich bin vorgestern baden gegangen,]

zdrava i vesela, potnoga tela prat.
[gesund und fröhlich, den verschwitzten Leib zu waschen.]

Kot sam ’z briga v’Pinku sigurno skočila,
[Als ich vom Hügel in die Pinka sicher sprang,]

vodena dibina tužnu mej’ povlikla.
[hat die Tiefe des Wassers mich Traurige hineingezogen.]

Kristuša na križu, sulicom preboli,
[Christus haben sie am Kreuz mit einem Speer durchbohrt,]

i mene su ’z vode sulicom van zeli,
[und mich haben sie mit einem Speer aus dem Wasser geholt,]

kakov strah obašal, mene gledajući,
[was für ein Schauer ging umher, als sie mich erblickten,]

kad su mrtvo telo ’z vode van izneli.
[als sie meinen toten Leib aus dem Wasser herauszogen.]

Dieses überlieferte Beispiel eines Spričanje hat an die 20 Strophen und dauert in gesungener Form nahezu eine halbe Stunde – keine zurückhaltende Trauerbeschäftigung, der Tod wird hier in seiner ganzen Wucht öffentlich thematisiert.

Die wohl eindrucksvollste Form einer expressiven Traueräußerung und bis in die 1970er Jahre fixe Soundkulisse eines Begräbnisses in der kroatischen Ortschaft Stinjaki/Stinatz im Südburgenland sind Totenklagen. Hier wird aus der individuellen Perspektive der Trauernden von den Verstorbenen Abschied genommen – geweint, geklagt, geschrien. Totenklagen waren gesellschaftliche Norm – die nächsten weiblichen Verwandten hatten zu klagen. In melodisch stilisierten Klagesequenzen im Fünftonraum adressiert die Klagende die verstorbene Person, spricht sie direkt an, stellt allerlei Fragen, grüßt andere Verstorbene, erinnert an gemeinsame Stunden, liebenswürdige Eigenheiten oder gar das Lieblingsessen, thematisiert aber auch die Zukunft des Leichnams in der dunklen Erde, die eigene Trauer, die Verzweiflung und das Verlassen-worden-Sein. Auffällig ist die dezidiert weibliche Attribuierung des Rituals, die einerseits als Sphäre gesteigerter Handlungsmacht von Frauen gesehen werden kann, andererseits über die Konnotation von psychischer Krise und Hysterie auch stereotype Weiblichkeitsbilder festschreibt (siehe Kölbl, 2021).

In den 1980er Jahren verschwanden die Totenklagen („Javkanje“) allmählich aus dem öffentlichen Raum und wurden zum Tabu. Zu „rückständig“ und „althergebracht“ schien das Ritual – und es barg die Furcht vor der Assoziation mit „fremd“ und „anders“. In den Häusern, bei verschlossenen Fenstern und heruntergelassenen Rollos wurde allerdings weiter geklagt, durchaus auch um den Verstorbenen nichts schuldig zu bleiben. Die Praxis im Verborgenen führt dazu, dass junge Burgenlandkroat_innen Totenklagen nur mehr vom Hörensagen kennen; die musikalische Kompetenz haben ausschließlich die alten Frauen im Dorf.

Eine Sehnsucht nach derartigen Ritualen mag auch einer kulturpessimistischen Verklärung eines traditionellen Landlebens geschuldet sein – und tatsächlich ist es wohl hilfreich, den Umgang mit Tod an aktuelle Gegebenheiten anzupassen. Trotzdem bleibt auch angesichts der gegenwärtigen Medikalisierung und Professionalisierung des Todes die Frage danach, welche Formen des expressiven Umgangs mit dem Tod uns in der Trauerverarbeitung helfen könnten und ob die Stille unserer Stimmen vielleicht eben nicht die probateste Form des Umgangs mit dem Tod ist.

Literatur

Dobrovich, Jakob und Ingeborg Enislidis. 1999. Spričanje. Das Toten-Abschiedslied der Kroaten im Burgenland (Volksmusik im Burgenland, Corpus musicae popularis Austriacae, Band 11), Wien: Böhlau.

Kölbl, Marko. 2021. „Gender Performativity in Burgenland Croatian Laments“, in: Ursula Hemetek, Inna Naroditskaya und Terada Yoshitaka (Hg.): Music and Marginalisation: Beyond the Minority-Majority Paradigm (Senri Ethnological Studies, Band 105). Osaka: National Museum of Ethnology, 209–226.

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