Ein durchaus persönlicher Beitrag zum Thema „Gemeinsam“

Kammermusik und Ensemblespiel haben an der mdw einen im internationalen Vergleich sehr hohen Stellenwert in der künstlerischen Ausbildung. Das war nicht immer so und ist das Ergebnis sehr bewusster Entscheidungen und konsequenter Aufbauarbeit.

Die Erfahrung selbstverantworteten Musizierens im Ensemble auf internationalem Spitzenniveau ist für uns wesentlich für die Entwicklung zur eigenständigen künstlerischen Persönlichkeit. Über den musikalisch-interpretatorischen Kontext hinaus können wir das Zusammenspiel im Ensemble aber geradezu als Modell für erfolgreiches, wechselseitig inspirierendes und unterstützendes Wirken und Verhalten in allen sozialen Kontexten verstehen – eben Kammermusik als Prinzip sozusagen!

Mein ganzes berufliches Leben als Musiker und Lehrer war und ist geprägt von kammermusikalischer Praxis und ihrer Reflexion: 40 Jahre in einem immer noch international aktiven Streichquartett (mit immer noch denselben Mitgliedern!) und 30 Jahre als Kammermusiklehrender an der mdw und in vielen internationalen Projekten.

© Gerard Spee

Seit mehr als 20 Jahren denke und erlebe ich darüber hinaus aber auch meine leitende und gestaltende Arbeit in den verschiedensten Funktionen an der Universität gemeinsam mit meinen Teams im übertragenen Sinn als Kammermusik.

Kammermusik ist Musizieren im Ensemble, und „ensemble“ aus dem Französischen heißt übersetzt „gemeinsam“. Ensemble beginnt ja schon, wenn zwei Menschen etwas gemeinsam machen, und es kann natürlich auch bis zur Orchestergröße reichen. Mir geht es also um ein allgemeines Modell gemeinsamen Tuns. Nicht die Bedeutung und die fantastische Qualität des unvergleichlichen Kammermusikrepertoires stehen für mich hier jetzt im Mittelpunkt, auch nicht die historische Abkunft von der „Kammer“ bei Hofe oder die bürgerliche Hausmusikkultur und schon gar nicht das ‚kleine Format‘, das in die Kammer oder gar in ein „Kammerl“ gehört.

Wenn wir verstehen, was beim gelingenden gemeinsamen Musizieren in einem kammermusikalischen Setting alles eine Rolle spielt, dann können wir Analogien zu anderen Bereichen herstellen und produktiv nützen! Welche Phänomene, Ebenen der Kommunikation und der Komplexität gilt es beim Kammermusikspielen zu verstehen, damit es gelingen kann? Ich versuche es modellhaft zu beschreiben:

Gehen wir davon aus, dass alle Beteiligten der Kammermusikgruppe ihre Instrumente kompetent spielen können, sich einbringen und etwas beitragen wollen, alle sich auch für das Ergebnis verantwortlich fühlen und sich mit den ans Publikum kommunizierten Inhalten und letztlich mit dem Ensemble identifizieren wollen. Es gibt für ein Ensemble in der klassischen Musik ein recht klar definiertes gemeinsames Ziel: die möglichst gelungene Interpretation eines vielleicht vor Jahrhunderten, vielleicht erst unlängst von einer Komponistin oder einem Komponisten erdachten und auf Papier festgehaltenen Musikstücks. Dieses „Werk“ mit seinem „Text“ ist die Vorlage und Vorgabe für das gemeinsame Tun. Schauen wir uns jetzt die Prozesse an, die auf Basis dieser Vorlage dann stattfinden. Wir finden hermeneutische Zirkel, verschiedene Ebenen der Kommunikation, Interdependenzen und vor allem Komplexität. Auf einer ersten hermeneutischen Ebene kommunizieren wir Musiker_innen mit dem „Text“: Wie lesen wir ihn, und wie deuten wir ihn? Was verstehen wir, was verstehen wir nicht? Was müssen wir vielleicht ergänzen, was verändern? Auf Basis dieser Kommunikation mit der Vorlage müssen wir uns als Kammermusiker_innen über alle Parameter verständigen können, die für das sinnvolle gemeinsame „Spiel“ notwendig sind: Welche Stimme wann welche Funktion hat, welche wechselnden „Koalitionen“ der Verlauf des Stückes verlangt, wo es um größtmögliche Homogenität und wo um klare Distinktion geht und so weiter. Bei dieser Kommunikation mit dem Werk gibt es also schon – auch bevor gespielt wird – eine kommunikative Herausforderung zwischen den Ensemblemitgliedern, da ja nicht notwendigerweise alle den Text gleich lesen, deuten oder gar emotional verstehen. Es braucht daher bereits bei unserer gemeinsamen Erkundung der Möglichkeiten Respekt füreinander, die offene Bereitschaft für eine andere Sicht der Dinge und die Fähigkeit zur Lösung von Dissens. Wenn dann tatsächlich gespielt wird, kommt es auf einer zweiten Kommunikationsebene zum hochkomplexen und interdependenten Beziehungsgeflecht der Ensemblemitglieder untereinander. Vergegenwärtigen wir uns, dass es bei jedem einzelnen Mitglied für die Hervorbringung der gewünschten Klangereignisse am eigenen Instrument ja schon äußerst komplexer Prozesse bedarf; beim Ensemblespiel laufen diese Prozesse aber eben nicht unabhängig, also „ungestört“, sondern jeweils bei allen individuell und zur gleichen Zeit ab, und sie müssen produktiv zusammenwirken. Wenn ich als Spieler meinen Part spiele, bin ich also einerseits in der Kommunikation mit dem Werk bzw. mit dem/der Komponist/in und folge dabei meiner Klangvorstellung von dem, was ich lese. Ich muss andererseits aber gleichzeitig überprüfen, ob das, was ich mit meinem Instrument spiele, auch tatsächlich so klingt, wie ich es mir vorstelle, und bei Bedarf sofort etwas ändern – sowieso eine lebenslange Herausforderung für Profis! Dasselbe gilt nun selbstverständlich – und eben gleichzeitig – für alle Beteiligten im Ensemble. Alle müssen, während sie selbst mit ihrem eigenen Spielen beschäftigt sind, gleichzeitig hörend wahrnehmen können, was die anderen spielen, das wiederum mit der eigenen Vorstellung und Erwartung abgleichen sowie überdies auf alles, was von der eigenen Erwartung abweicht, auch sofort kreativ reagieren können. Dieser kommunikative Austausch im Ensemble auf mehreren Ebenen kann also mit Fug und Recht als komplexes System bezeichnet werden: Der Zustand aller Beteiligten in der Interaktion verändert sich ständig!

© Gerard Spee

Als Kammermusiker_innen lernen wir notwendigerweise, gleichzeitig zu geben und anzunehmen, gleichzeitig zu „senden“ und zu „empfangen“. Entscheidend ist dabei die Fähigkeit zum wirklichen Aufeinanderhören, damit bei der Aufführung des Werkes ein im Moment sinnvoller Diskurs miteinander geführt werden kann, sei es im „Zustimmen“ oder im kontrastierenden „Widerspruch“. Die dritte Kommunikationsebene ist die Kommunikation mit dem Publikum: Wie senden wir unsere „Message“, wie spüren wir, ob sie wahrgenommen wird, und wie reagieren wir auf die „Response“ der Zuhörer_innen? Auch diese Kommunikation ist daher keine Einbahnstraße, und sie läuft gleichzeitig mit den schon beschriebenen Kommunikationssträngen.

Last, but not least haben wir als vierte Ebene der Kommunikation noch die „Metaebene“, also das, was jenseits der Inhalte sowohl zwischen den Ensemblemitgliedern untereinander als auch mit dem Publikum „gesendet“ und „empfangen“ wird! Ist das, was wir mit unserem Körper und unserer Gestik sagen, kongruent mit dem, was wir zueinander in Worten bzw. mit unseren Tönen sagen? Wird das, was wir dem Publikum mit unserem Spiel mitteilen, als authentisch wahrgenommen? Vermittelt sich ein insgesamt positiver „Vibe“, stimmt unsere Erscheinung mit dem vermittelten Inhalt überein? Wie wirkt die Gruppe als Ganzes? Das kognitive und intuitive Verständnis für die Bedeutung dieser kommunikativen Ebenen und Beziehungen ist für mich mit der Zeit auch jenseits des Musizierens zur generellen Grundhaltung für das gemeinsame und explorative Arbeiten mit Menschen geworden – mit den Studierenden, in den Organisationseinheiten und Projektgruppen und schließlich auch im Rektorat.

„Kammermusik als Prinzip“ braucht Übung und die Energie, „es immer wieder zu versuchen“: Respekt und Wertschätzung, die Bereitschaft, die andere Meinung zuzulassen, Konflikt- und Streitkultur und schließlich Loyalität und Toleranz wollen genauso geübt sein wie sichere Intonation, klare Artikulation, rhythmische Stabilität und Klangkontrolle beim Musizieren. Kammermusik ist für mich die beste Lebensschule – sie hat mich gelehrt, dass die wichtigste Form der Disziplin die Selbstdisziplin ist und dass wir im Ensemble nicht unsere Partner_innen, sondern nur uns selbst verändern können. Für unser soziales Miteinander wünsche ich mir also möglichst viel vom „Prinzip Kammermusik“!

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