Ein Beispiel für Community Outreach in der Ethnomusikologie

„Ethnomusicology as a discipline has evolved around assertions of the inseparable interconnections between musical sounds and the societies and communities that give rise to them“ (Cottrell/Impey 2018:1). So beschreiben Stephen Cottrell und Angela Impey die Ethnomusikologie. Für unsere Disziplin ist „Community“ also ein zentraler Begriff und etwas, mit dem sich das Fach seit Beginn beschäftigt. „Outreach“ wird seit etwa 20 Jahren mit den Begriffen „Applied“ oder „Engaged Ethnomusicology“ umschrieben. Es ist also für die Ethnomusikologie seit Langem zentral und – im Gegensatz zu anderen Disziplinen – nichts Neues, darauf zu achten, dass die Forschung in die Gesellschaft zurückwirkt und diese auch in den Forschungsprozess einbezogen wird. Dies liegt an der Ausrichtung des Fachs an sich. Ethnomusikologie beschäftigt sich mit Musik im sozialen Zusammenhang, hat also logischerweise einen ganz engen Bezug zu jenen, die Musik machen oder hören. Wir nennen diese Personen, von denen wir lernen, die ihre Zeit und ihre Kreativität mit uns in der Feldforschung teilen, unsere Forschungspartner_innen. Dieser Prozess der Feldforschung hat auch viel mit gegenseitigem Vertrauen zu tun, es entstehen Beziehungen auf der menschlichen Ebene. Bruno Nettl (1930–2020), einer der ganz Großen unseres Fachs, hat 2005 Ethnomusikologie folgendermaßen beschrieben: „[E]thnomusicology is the study of music in culture, […] the study of the World’s Musics from a comparative and relativistic point of view, […] the study with the use of fieldwork – for the benefit of the people from whom we learn […]“ (Nettl 2005:10). Er hebt also hervor, dass die Forschung den Partner_innen nützen soll, womit die Forderung nach „Engaged Ethnomusicology“ impliziert ist.

© Julia Fent

Die ethnomusikologische Forschung am Music and Minorities Research Center (MMRC) an der mdw folgt diesem Grundprinzip. Derzeit laufen neben vielfältigen anderen Aktivitäten drei eigenständige Forschungsprojekte am MMRC, zwei davon zu syrischen Geflüchteten (siehe musicandminorities.org). Das Dritte beschäftigt sich mit einem Wiener Gemeindebau, nämlich dem Anton-Figl-Hof im 14. Wiener Gemeindebezirk, und nennt sich Klingender Gemeindebau. Die forschungsleitende Frage ist folgendermaßen formuliert: Welche Rolle spielt Musik im Leben der Bewohner_innen eines Wiener Gemeindebaus? Auch für die Ethnomusikologie ungewöhnlich ist an diesem Ansatz, dass das „Forschungsobjekt“ weder eine durch gemeinsame Herkunft oder kulturelle Praktiken verbundene Gruppe von Menschen ist noch bestimmte künstlerisch tätige Individuen „beforscht“ werden. Hier geht es um eine Wohnhausanlage, die als Community interpretiert wird.

Gemeindebau-Wohnhausanlagen zeichnen sich durch eine große Vielfalt an Sprachen, Herkünften, Altersgruppen und Interessen der Bewohner_innen aus. Diese Vielfalt kann Anlass für Konflikte sein, wenn konträre Bedürfnisse aufeinanderprallen, stellt aber vor allem eine bedeutsame Ressource für bereichernde Begegnungen und Erfahrungen dar. Der Anlass für diese Forschung war das Bedürfnis der Organisation Wohnpartner, in ihrer Tätigkeit das Potenzial von Musik in gelingenden Gemeinschaftsaktivitäten noch stärker zu nützen. Wohnpartner setzt als Teil von Wohnservice Wien unterschiedliche Aktivitäten, die eine gute Nachbarschaft im Gemeindebau unterstützen sollen. Hierzu zählen auch kulturelle Aktivitäten, insbesondere im sogenannten Kulturlabor: „Ziel des ‚Kulturlabor Gemeindebau‘ von Wohnpartner ist es, ein Kultur-Netzwerk in den Wiener Gemeindebauten aufzubauen. Dabei sollen Brücken zwischen Menschen unterschiedlichen Alters, Herkunft und Lebenswelt geschlagen werden“ (siehe wohnparnter-wien.at). Im Bereich Musik war für die Verantwortlichen noch Aufholbedarf gegeben, jedoch war unklar, wie dieser Bereich angegangen werden sollte – und so traten sie mit dieser Problemstellung an das MMRC heran. Die Ethnomusikologie bietet hierzu die passenden Zugänge, vor allem den naheliegenden Forschungsansatz, zunächst die musikalischen Identifikationen der Bewohner_innen in einer Feldforschung zu erheben, um in der Kulturarbeit auch darauf eingehen zu können.

Gemeinsam wurde das Projektdesign entwickelt, auch unter Einbeziehung des Phonogrammarchivs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Im Rahmen des Forschungsprojekts interessiert, welche unterschiedlichen Musiken von den Bewohner_innen praktiziert und gehört werden – im öffentlichen Raum ebenso wie in den eigenen vier Wänden – und welche Rolle Musik in deren Alltag und im Zusammenleben spielt. Die Erhebung findet zwischen Frühjahr 2021 und Frühjahr 2022 statt und wird von Projektmitarbeiterin Jasemin Khaleli durchgeführt. Darauf aufbauend sollen gemeinsam mit den Bewohner_innen Formate erarbeitet werden, wie die Forschungsergebnisse in einer zweiten Projektphase den Bewohner_innen direkt zugutekommen können. Es bestimmen also unsere Forschungspartner_innen mit, wie eine Umsetzung der Forschungsergebnisse erfolgen soll. Die Umsetzungsphase wird von Wohnpartner federführend durchgeführt werden.

© Julia Fent

Die Einbeziehung der Community in dieses Projekt ist also eine zweifache: Mit Bewohner_innen der Wohnhausanlage werden Interviews geführt, sie sind unsere Gesprächspartner_innen im Forschungsprozess, und die Umsetzungsphase wird sich an den in diesen Gesprächen erhobenen Inhalten und Beobachtungen orientieren. Forschung wird hier als Dialog gestaltet, der letztlich auch Auswirkungen vor Ort haben wird. Wir können zu diesem Zeitpunkt – die Forschung ist erst am Beginn – noch nicht vorhersagen, wohin die Reise gehen wird. Wir haben die Ausrüstung im Gepäck, Methoden, Erfahrungen, Theorien, Technologie, wir haben ein übergeordnetes Ziel vor Augen, aber der Ausgang ist trotzdem offen. Ergebnisse entstehen erst durch zwischenmenschliche Kommunikation, und sie dienen der Community – und genau das ist für mich die Faszination von ethnomusikologischer Forschung.

Cottrell, Stephen und Angela Impey (2018). „Community Music and Ethnomusicology“ in: The Oxford Handbook of Community Music. Herausgegeben von Brydie-Leigh Bartleet und Lee Higgins. Online-Publikation: DOI:10.1093/oxfordhb/9780190219505. 013. 12

Nettl, Bruno (2005). The Study of Ethnomusicology. Thirty-one Issues and Concepts. Urbana/Chicago, University of Illinois Press.

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