Seit März 2020 wirkt Marin Alsop, Chefdirigentin des RSO, als Artist in Residence an der mdw und unterrichtet dort als erste Frau Orchesterdirigieren. Mit Rektorin Ulrike Sych und Vizerektorin Gerda Müller sprach die Maestra über Quoten, Exzellenz und Chancengleichheit.

Manche Dirigentinnen sind es leid, darüber zu sprechen, dass Frauen in diesem Beruf noch immer eine Minderheit sind. Wie geht es Ihnen damit?

Marin Alsop (MA): Natürlich wäre es schön, wenn wir diese Frage nicht mehr ins Zentrum stellen müssten, weil sie davon ablenkt, was wir als Künstlerinnen leisten. Aber ich glaube, es ist immer noch ein langer Weg, bis Gleichheit zwischen den Geschlechtern herrscht.

 

Marin Alsop © Grant Leighton

Haben Sie persönlich während Ihrer Studienzeit Diskriminierung erlebt?

MA: Es ist nicht immer leicht zu erkennen, was unter Diskriminierung fällt und was schlicht dem Umstand geschuldet ist, dass man jung, unerfahren und neu in einem Fach ist. Ich habe während meines Studiums versucht, jede Art von Kritik von Lehrenden nicht als sexistisch zu verstehen. Ich wollte es vermeiden, damit eine eventuelle Ausrede zu haben, falls ich einen Job nicht bekommen hätte. Das wollte ich keineswegs auf mein Geschlecht zurückführen, weil ich dann meine Fehler nicht objektiv analysiert hätte.

Wie viele Studentinnen gab es, als Sie Dirigieren studiert haben?

MA: Eine Handvoll. In meinem ersten Jahr waren wir drei. Aber ich würde sagen, die Anzahl der studierenden Frauen war in den vergangenen drei Jahrzehnten immer ähnlich. Erst vor Kurzem hat sich das geändert.

Wie kann eine Musikuniversität weibliche Studierende des Fachs „Dirigieren“ unterstützen?

Ulrike Sych (US): Indem sie ihnen viel Selbstvertrauen vermittelt, an sie glaubt und sie darin unterstützt, authentisch zu bleiben und ihren künstlerischen Weg zu gehen. Außerdem wollen wir diesen Studentinnen an der mdw auch Möglichkeiten außerhalb des Curriculums bieten und ihnen, entsprechend ihrer jeweiligen Begabungen, bestimmte Tools vermitteln. Wir wollen sie aber auch lehren, Nein zu sagen, und sie für mögliche Diskriminierungen sensibilisieren. Sie sollen lernen, Konfliktstrategien zu entwickeln. Wir wollen die jungen Frauen schon an der Universität stärken und mutig machen, auch, damit sie unterwegs nicht aufgeben, sondern beim Dirigieren bleiben. Das alles gilt eigentlich für alle Studierenden der mdw.

Ulrike Sych © Inge Prader

Gerda Müller (GM): Wir brauchen auch Role-Models, denn wir wollen unseren Studierenden – besonders den Frauen – zeigen, dass ein erfolgreicher Karriereweg möglich ist. Als Universitätsleitung haben wir die Verantwortung, ihnen Räume zu bieten, um etwa auch als Dirigentinnen erfolgreich sein zu können. Zu den Zahlen: 2001 hatten wir einen Anteil von 17,8 Prozent Frauen als Studierende im Fach Dirigieren. Im Studienjahr 2018/19 waren es 18,3 Prozent, also nur eine geringe Steigerung. Wir entwickeln derzeit im Rahmen einer Diversitätsstrategie Maßnahmen, die mehr Frauen zu diesem Studium bewegen sollen. Dazu gehört auch das Programm mit Marin Alsop. Sehr erfreulich ist, dass im Studienjahr 2020/21 erstmals 50 Prozent Frauen in das Dirigierstudium aufgenommen wurden, das ist ein Riesenerfolg.

US: Es geht auch darum, auf die Zeit vor dem Studium zu blicken, denn noch immer kommen viele junge Mädchen gar nicht auf die Idee, Dirigieren zu studieren, obwohl sie die Begabung dazu haben.

GM: Mithilfe unserer Diversitätsstrategie möchten wir die Studentinnen empowern. Das geschieht etwa durch Workshops oder Kamingespräche, in denen wir sie mit erfolgreichen Frauen zusammenbringen, die mit ihnen im Rahmen eines Mentorings arbeiten. Aber wir trainieren unsere Studentinnen auch darin, wie man mit Bewerbungssituationen umgeht, wie man sich präsentiert. Es geht auch darum, ihr Selbstbewusstsein zu stärken, bevor sie in die Welt hinausgehen.

Gerda Müller © Sabine Hauswirth

Was kann man noch vor der Studienwahl, in der Schulzeit bewirken?

US: Man kann schon atmosphärisch in die Zeit vor der Universität hineinwirken, national und international. Frauenförderung ist nicht Frauensache, sondern eine gesellschaftliche Verantwortung. Wir als Universität wirken durch unsere Pädagogik-Studien ohnehin stark in den Schulbereich hinein, und durch die elementare musikalische Früherziehung sogar in den Kindergarten. Auch hier bringen wir unsere Ansätze von Gender Studies schon stark ein. Denn es geht ja auch darum, wie die Kindergartenpädagog_innen mit den ganz Kleinen sprechen. Zu Mädchen sagt man ja gern: „Hast du aber ein schönes Kleid an!“ Das würde man zu Buben über ihre Kleidung nie sagen.

Frau Alsop, wie kamen Sie auf den Wunsch, Dirigentin zu werden?

MA: Meine Eltern waren beide Musiker_innen. Ich habe Klavier und Geige gelernt, und am meisten habe ich es genossen, im Orchester zu spielen. Als ich neun war, nahm mein Vater mich in ein Konzert mit. Ich war schwer beeindruckt vom Dirigenten. Was er da machte, fand ich begeisternd und unwiderstehlich, ich wollte so sein wie er! Nun, dieser Dirigent war Leonard Bernstein.

Bernstein wurde Ihr Mentor …

MA: 1987 begann ich mein Studium bei ihm. Dann wurde ich am Tanglewood Music Center aufgenommen, wo Bernstein unterrichtete. Wir waren einander sehr nah und arbeiteten viel zusammen, bis er starb. Er war ein unglaublicher Weltbürger, Mensch, Lehrer und ein phantastischer Mentor. Meine Zeit dort übertraf all meine Erwartungen, es war einfach großartig.

Was bewirkt ein guter Mentor oder eine gute Mentorin?

MA: Man muss seinem Schützling die Fähigkeit vermitteln, ganz bei sich selbst zu bleiben. Bernstein glaubte an mich und damit bestätigte er mich in meiner Persönlichkeit. Das hat mich extrem bestärkt.

Es gibt immer noch Orchester, die noch nie mit einer Dirigentin gearbeitet haben. Wann wird dieses Problem gelöst sein? Wenn endlich eine Frau das Wiener Neujahrskonzert dirigiert?

MA: Das wäre ein guter erster Schritt. Aber solange es noch nicht normal geworden ist, Frauen am Dirigent_innenpult zu sehen, ist das Problem nicht gelöst.

Würden Sie gerne das Neujahrskonzert dirigieren?

MA: Man kann mich gerne anfragen.

Was muss eine gute Dirigentin bzw. ein guter Dirigent können? Es geht wohl auch um Management?

MA: Zunächst muss er oder sie ein absolutes Bekenntnis zur Kunst haben. Weiters eine ausgeprägte Leidenschaft, den Intentionen der Komponist_innen zu dienen. Und dann braucht man Überzeugungskraft in Bezug auf das, was man mit der Kunst überhaupt erreichen will. Zu den anderen Skills: Man muss eine gute Managerin bzw. ein guter Manager und Leader sein, und Menschen müssen bereit sein, einem zu vertrauen und den Weg mitzugehen. Aber da gibt es unterschiedliche Bewertungen von Männern und Frauen, denn bei Männern wird eher akzeptiert, dass sie autokratisch führen. Von Frauen erwartet man hingegen Kollaboration.

Inzwischen sind mehr Frauen denn je im Musik-Business präsent, auch Dirigentinnen. Gehört das sozusagen zum „guten Ton“ oder hat sich wirklich etwas in der Gesellschaft verändert?

MA: Seit der MeToo-Bewegung hat sich etwas wesentlich verändert: Auf einmal werden von vielen Stellen aktiv weibliche Dirigentinnen gesucht. Das ist völlig anders als zu Beginn meiner Karriere. Das ist zwar großartig, aber ich möchte das auch nachhaltig über das kommende Jahrzehnt hinaus erleben. Allerdings bin ich eher skeptisch, denn man hätte diese Haltung schon längst haben können. Frauenrechte und Gleichberechtigung sind seit 250 Jahren ein Thema.

Wie sieht es heute bei den Lehrenden aus? Wie ist das Geschlechterverhältnis an der mdw?

GM: Im Fach Dirigieren gab es bisher keine Professorin, Marin Alsop ist die erste Frau, die regelmäßig im Rahmen von Masterclasses in diesem Fach bei uns lehren wird. Was Professuren generell betrifft, so haben wir seit 2019 mehr als 30 Prozent Professorinnen. Bei den Lehrenden des künstlerischen und wissenschaftlichen Personals gibt es ein ausgewogenes Verhältnis. Die Aufteilung hängt auch von den Studienfächern ab. In den pädagogischen Studien lehren mehr Frauen. In der Popularmusik unterrichten zwar mehr Frauen Gesang, allerdings lehrt nur eine Frau im Instrumentalbereich.

US: Kürzlich haben wir eine Frau als Professorin im Tonmeisterstudium berufen. Ich lege großen Wert darauf, auch in diese klassischen Männerdomänen gute Frauen zu berufen.

Wie denken Sie über Quotenregelungen?

US: Da möchte ich ein allgemeines Missverständnis aufklären, denn Quote ist ein Exzellenzbegriff. Wenn eine Frau in einer Männerdomäne bei gleicher Qualifikation gleich gereiht wird, muss sie exzellent sein. Ich bin eine Befürworterin der Quote als Instrument, um exzellente Frauen in Positionen zu bringen, in denen sie schon längst hätten sein sollen.

GM: Wir haben jetzt bei den Bewerbungs-Hearings einen sehr guten Chancenindikator für Frauen erreicht. Das ist auch ein Ergebnis unserer Arbeit. Unsere strukturellen Maßnahmen zeigen Wirkung, wie man an den Zahlen sehen kann.

Es heißt oft, dass Frauen die Netzwerke fehlen würden.

US: Das sehe ich nicht so. Ich arbeite als Rektorin letztlich auch in einer Männerdomäne und fühle mich mindestens genauso vernetzt wie alle männlichen Kollegen, nur sind wir Frauen anders vernetzt, nicht so plakativ. Wir gehören weniger den traditionellen Clubs an, sondern sind eher fachbezogen stark vernetzt. Wir sind etwas undurchschaubarer in unserer Vernetzung, und das ist gut so.

GM: Die Frage ist, wie einflussreich die Personen in diesen Netzwerken sind. Wer bekleidet die wesentlichen Positionen? Wer hat Führungspositionen inne und trifft Entscheidungen? Man soll die Netzwerke der Frauen nicht unterschätzen, aber wenn es um Macht und Einfluss geht, denke ich, dass wir Frauen noch stärker in Führungspositionen verankert sein müssten, um eine äquivalente Wirkung erzielen zu können.

Mit Marin Alsop ist jetzt eine starke Führungspersönlichkeit in einer auch für die mdw wichtigen Institution, dem RSO Wien.

US: Die Zusammenarbeit der mdw mit dem RSO ist eine besondere Kooperation, die historisch gewachsen ist. Marin Alsop wird Studierende auch in Proben des RSO Wien mitnehmen und ihre Kontakte für die Studierenden fruchtbar machen, da bin ich sicher.

Im vergangenen November haben Sie im Rahmen der Veranstaltungsreihe „fifty-fifty in 2030“ eine Masterclass für angehende Dirigentinnen an der mdw gegeben. Worum geht es in einem Kurs speziell für Frauen?

MA: Ich glaube, dass Frauen eine andere Physis haben als Männer, und das wirkt sich zum Beispiel auf die Gesten beim Dirigieren aus. Beim Dirigieren geht es um Gesten. Jede Geste, die wir Dirigent_innen machen, muss von den Musiker_innen im Sinne der Musik richtig interpretiert werden. Wenn sie aber falsch interpretiert werden, müssen wir unsere Gesten so anpassen, dass sie verstanden werden, denn es geht ja darum, die Musik umzusetzen. Es zeigt sich aber, dass manche Gesten bei Frauen anders interpretiert werden als bei Männern. Es ist sinnvoll, solche Kurse für Frauen zu machen, weil die Probleme anders gelagert sind.

Worauf achten Sie bei Ihrer Dirigiersprache?

MA: Ich versuche, sie neutral zu gestalten, also weder weiblich noch männlich. Das war ein langer Prozess. Es ist auch sehr hilfreich, die Gesten mit den Musiker_innen zu besprechen. Eine Frage in unserer Masterclass ist zum Beispiel auch, wie man ausdrucksstark dirigieren kann, ohne aggressiv zu wirken.

Hat sich in den vergangenen Jahrzehnten die Situation für Frauen in der Musikbranche verbessert?

US: Ich bin sehr optimistisch. Als ich studiert habe, gab es noch kein Bewusstsein für Frauenförderung. Das hat sich geändert. Heute bestehen an der mdw Kommissionen zur Hälfte aus Frauen. Da gibt es keine Diskussionen mehr. Auf universitärer Ebene waren wir sehr erfolgreich. In der Gesellschaft ist das etwas anderes, und wenn man die Entwicklung in Europa beobachtet, denke ich, das man aufpassen muss. Es gibt in manchen Staaten starke Tendenzen zur Rückentwicklung.

GM: Wir sind gut unterwegs und es hat sich vieles positiv verändert. In Europa oder den USA sind wir privilegiert, aber anderswo auf der Welt ist die Situation für Frauen schlecht. Unsere Verantwortung ist es, aus unserer Position heraus neue Perspektiven für alle Frauen zu entwickeln. Wir haben Studierende aus 70 Ländern an der mdw. Insofern können wir auch viel Einfluss auf ihre Rollenbilder nehmen. Das ist unsere Verantwortung als Universität.

US: Ich hätte gerne, dass unsere Studierenden, wenn sie die Universität verlassen und in die Welt gehen, sich nicht nur als Künstler_innen, sondern auch als Botschafter_innen verstehen für Menschenrechte, Gleichheit und Transkulturalität.

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