Auch in der Musik gerät der Gendergap endlich in Bewegung – zumindest stellenweise. Zuerst die gute Nachricht oder die schlechte?

Die gute Nachricht ist: Auf dem weiten Feld der zeitgenössischen Musik haben die Präsenz und Prominenz von Komponistinnen, Improvisatorinnen und Performerinnen in den letzten Jahren unübersehbar zugenommen. Ein kurzer Blick in Festival- und Ensembleprogramme von Darmstadt über Donaueschingen bis Wien zeigt den zuletzt rasant gestiegenen Frauenanteil. Unter den neuen Werken in der Programmplanung von Wien Modern beispielsweise liegt der Anteil mit weiblicher Beteiligung 2018 bei 45 %, 2019 bei 37 %.1 57 verschiedene Komponistinnen und Improvisatorinnen sind allein im Programm von Wien Modern 2019 zu finden.2 Wer im Bereich der zeitgenössischen Musik 2019 noch immer das Argument verwendet, leider keine interessanten Komponistinnen (Improvisatorinnen, Performerinnen) gefunden zu haben, outet sich als bedauerlich schlecht informiert und braucht dringend ein Update. Ein Update übrigens, das sich extrem auszahlt – dazu später mehr.

Und jetzt die schlechte Nachricht: Auch wenn sich die zeitgenössische Musikszene leichter tut als der budgetär weitaus größere Bereich der klassischen Musik mit seinem notorischen „Sexismusproblem“ (Süddeutsche Zeitung 20173), ist es bis zur Gleichstellung der Geschlechter auch in der Avantgarde noch ein weiter Weg. Noch besonders unbalanciert – nur unbedeutend weniger als in der Klassik – ist das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Dirigentinnen und Dirigenten. Aber auch der Anteil an Komponistinnen ist durchaus noch ausbaufähig.

Anzahl der Komponistinnen bei Wien Modern 1988–2019

Begonnen hatte die Entwicklung der Neuen Musik im 20. Jahrhundert so, als hätte es damals noch keine Frauen auf der Welt gegeben: Bei den Donaueschinger Musiktagen wurde 1921–1960 keine einzige Komponistin aufgeführt, 1961–1980 waren es insgesamt 7 (unter 3 %), in den folgenden Jahrzehnten 11 (8,73 %), 25 (10,16 %) und 36 (12,5 %), 2011–2018 dann 58 (22 %), wobei die Zahl 2018 mit 16 Komponistinnen und Improvisatorinnen auf 33 % stieg. Bei den Darmstädter Ferienkursen wurden 1946–1972 zusammengerechnet 10 Werke von Komponistinnen aufgeführt, maximal eines pro Jahrgang (0 %–2 %), das erste 1949. 1974–1982 waren es 12 Werke, 1984–1992 110 (5 %–12 % pro Ausgabe), 1994–2002 71 (5 %–17 %), 2004–2012 95 (9 %–19 %), 2014 lag der Anteil mit 46 Komponistinnen bei 18 %. Seit der Gründung von GRID – Gender Research in Darmstadt4 2016 hat die Kurve wie auch die Debatte deutlich Tempo zugelegt.

Auch Wien Modern war im Gründungsjahr 1988 zunächst ohne eine einzige Komponistin an die Öffentlichkeit gegangen, 1989 hatte lediglich Sofia Gubaidulina den Weg ins Programm gefunden. Bei Wien ­Modern, in Darmstadt oder Donaueschingen würde so etwas inzwischen längst absurd bis skandalös wirken, doch bei anderen großen Musikfestivals ist die einzelne Komponistin als Feigenblatt durchaus noch anzutreffen. Viele kleine und große Avantgarde-­Plattformen sind mittlerweile aufgewacht, doch etwas näher am Klassik-Mainstream wird die rasante Entwicklung teilweise noch immer verschlafen.

Vermutungen über die aktuellen Erfolgsfaktoren im Bereich der zeitgenössischen Musik

Blicken wir noch einmal auf den Bereich der guten Nachrichten: Was hat auf den genannten Avantgarde-Festivals den steigenden Anteil von Komponistinnen und Performerinnen bewirkt? Zunächst vermute ich, dass die Gender-Ausgewogenheit beim Publikum und Nachwuchs allmählich eine Rolle spielt: Im Verhältnis zu einem Frauenanteil von 51 % beispielsweise am Publikum von Wien Modern oder von 55 % an den Studierenden der mdw wirkt die bis Anfang des 21. Jahrhunderts durchgehend marginale Präsenz von Komponistinnen und Dirigentinnen wie ein seltsames Missverständnis, das es jetzt endlich einmal richtigzustellen gilt.

Das heute selbstverständliche Denken in Vernetzungen, der immer vielfältigere, dezentralere Austausch legen es nahe, einen Gedanken des Internet-Vordenkers John Gilmore heranzuziehen: „The Net interprets censorship as damage and routes around it.“ Tatsächlich ist in der zeitgenössischen und experimentellen Musik schneller als in der Klassik zu beobachten, dass sich – pathetisch ausgedrückt – die einstigen „streng bewachten Festungen der Hochkultur“ entweder öffnen, aktualisieren und diversifizieren oder dass verstärkt Alternativen zu ihnen entstehen. Anstatt das frustrierende Schlangestehen vor den Künstlereingängen gewohnheitsträger Konzert- und Opernhäuser, Festivals und Ensembles weitere Jahrzehnte geduldig in Kauf zu nehmen, setzen immer mehr Künstler_innen auf Hilfe zur Selbsthilfe und gründen kurzerhand eigene Plattformen. In Österreich war das in den letzten rund 15 Jahren beispielsweise zu beobachten bei Freifeld, Fraufeld, Platypus, Schallfeld, Black Page Orchestra, Velak, V:NM, Reheat, Blöder Dritter Mittwoch u. v. a. – Wobei mehr oder weniger alle Off-Initiativen der freien Szene in Sachen weiblicher Beteiligung jedes etablierte Opernhaus meilenweit abhängen.

„Patriarchale Strukturen haben sich tief in das Bild von künstlerischer Arbeit eingegraben“, stellte Olaf Zimmermann 2016 im Bericht des Deutschen Kulturrats fest.5 Die Musik mag innerhalb der Künste traditionell besonders unausgewogen dastehen – aber zumindest im Bereich der Avantgarde hat sich herumgesprochen, dass alte patriarchale Muster nicht alternativlos sind und zuweilen gehörig nerven. „Dirigent ist schon ein sehr seltsamer Beruf“6, sagte beispielsweise Heinz Holliger vor einigen Jahren kopfschüttelnd, als er an einem Klassikplakat mit ekstatisch-gebieterisch dreinschauendem Pultstar vorbeiging. „Der Beruf ist viel weiblicher geworden“6, sagte Emmanuel Krivine, und konstatierte damit beispielweise die gesunkene Verbreitung und Akzeptanz autoritären Auftretens.

Die größere Offenheit gegenüber neuen Formaten und Experimenten, die wachsende Rolle kollektiver Arbeit und flacher Hierarchien, die allmähliche Verlagerung von Werken zu Prozessen – diese und weitere in der Neuen Musik immer spürbarer werdende Änderungen stehen in beiderseitigem Wechselverhältnis mit der stärkeren Beteiligung von Künstlerinnen. Die Entwicklung der Szene hat nicht zuletzt durch viele spannende Komponistinnen und Performerinnen entschieden an Dynamik gewonnen. Komponistinnen treiben die ästhetische Entwicklung der Neuen Musik auf vielfältige Weise voran. Es wäre Unsinn, Programme ohne sie zu gestalten.

Vermutungen, was auch im Bereich der klassischen Musik helfen könnte

Die in den letzten Jahrzehnten verbesserte Balance bei den Interpret_innen hat dem Klassikgeschäft gutgetan. Was kann bei Komponist_innen und Dirigent_innen helfen? Wenn Programmverantwortliche, die auf das klassische Repertoire beschränkt sind, anhaltende Probleme haben, „interessante Werke von Komponistinnen zu finden“, und hingegen Programmverantwortliche, die neue Werke beauftragen oder programmieren, heute erfreulicherweise aus dem Vollen schöpfen können, wäre eine Lösung ja recht naheliegend: Mehr zeitgenössische Musik in klassische Programme aufnehmen. Mehr Kompositionsaufträge vergeben. Und vielleicht einfach vor dem Abschließen eines Programms noch einmal schauen, ob man nicht ungeschickterweise vergessen hat, Komponistinnen und Dirigentinnen einzubeziehen, ähnlich wie man vor dem Abschließen der Wohnung schaut, ob man den Gasherd ausgemacht hat.

fifty-fifty in 2030. Gender equality in music, ten years from now

Fußnoten

  1. 2018 waren bei Wien Modern 104 neue Werke geplant (Ur- oder Erstaufführung), davon 55 % von Komponisten, 32 % von Komponistinnen, 13 % von Komponistinnen und Komponisten gemeinsam. 2019 sind 109 neue Werke geplant, davon 63 % von Komponisten, 28 % von Komponistinnen, 9 % von Komponistinnen und Komponisten gemeinsam.
  2. Diese Zahl aus der Programmplanung des Jahres 2019 entspricht der Summe aller Nennungen von Komponistinnen in den Programmen von Wien Modern aus den Jahren 1988–2000 (wobei mehrfach genannte Komponistinnen allerdings im Unterschied zu 2019 mehrfach gezählt sind). Die Angaben 1988–2015 basieren, auch in der grafischen Darstellung, auf der relativ kursorischen Erfassung für den 30. Festivalkatalog Wien Modern 2017, ein Forschungsprojekt würde fraglos präzisere Daten zutage fördern.
  3. Simon Tönies: „Die klassische Musik hat ein Sexismusproblem“, Süddeutsche Zeitung 11. 1. 2017, online unter https://www.sueddeutsche.de/kultur/gender-debatte-die-geschlechterkluft-ist-tief-1.3325426
  4. Ashley Fure: GRID: Gender Research in Darmstadt. A 2016 HISTORAGE Project Funded by the Goethe Institute, online unter https://griddarmstadt.files.wordpress.com/2016/08/grid_gender_research_in_darmstadt.pdf vgl. https://griddarmstadt.wordpress.com
  5. Olaf Zimmermann: „Diversität hebt die künstlerische Qualität: Geschlechtergerechtigkeit im Kulturbereich“, Gabriele Schulz, Carolin Ries, Olaf Zimmermann: Frauen in Kultur und Medien. Ein Überblick über aktuelle Tendenzen, Entwicklungen und Lösungsvorschläge. Deutscher Kulturrat, 2016, online unter https://www.kulturrat.de/wp-content/uploads/2016/12/Frauen-in-Kultur-und-Medien.pdf
  6. Beide Zitate nach dem Gedächtnis aus Gesprächen mit dem Autor ca. 2014
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