Ö1-Journalist Peter Kislinger zeichnet einen Querschnitt des mdw Festival ’16-Programms rund um Nordische Kompositionen und schildert, dass schon Jean Sibelius mit den Vorstellungen vom „Typisch Nordischen“ zu kämpfen hatte.

„Musik ist in den nordischen Ländern so verwurzelt wie der Orangenbaum.“ So höhnte noch um 1800 Hegel. 200 Jahre später exportieren diese Länder, allen voran Finnland, mehr Musik und MusikerInnen in den Süden als dieser Orangen in den Norden. Musik aus diesen Ländern wird gern auf Klischees reduziert: Nordisches Licht, Melancholie, Stille, Kälte, Natur. Musik ist aber ein souveräner Staat mit eigenen Gesetzen.

Worin liegt das Besondere nordischer Musik beziehungsweise der modernen Musik des Nordens? Meine Antwort seit Jahren: Es gibt keine nordische Musik, wie es auch keine moderne Musik gibt. Was haben die Vierteltonkompositionen Sampo Haapamäkis mit Ahos 16 polystilistischen Sinfonien, diese mit Lindbergs Kraft und dieses mit dessen Al largo gemeinsam? Was Rautavaaras serielle 4. Sinfonie Arabescata mit seiner 7. Sinfonie Angel of Light, was Pärts erste drei Sinfonien mit Fratres, was Pēteris Vasks Violinkonzert Distant Light mit Saariahos elektroakustischem Jardin secret, dieses mit ihrem sinfonischen Orion, was verbindet die Klarinettenkonzerte von Aho, Eliasson, Hakkola, Fagerlund, Kaipainen, Rautavaara, Saariaho, Tiensuu? Sie stammen von Menschen, die im Norden geboren wurden und in den letzten 40 Jahren entstanden sind. Ich böte, würde ich den Euromillionen-Jackpot gewinnen, den gesamten Gewinn, wer das Nordische oder Baltische, gar Finnische, Schwedische, Lettische, Litauische aus den Werken heraushören könnte.

Sowohl in Finnland als auch anderswo, meinte Mikko Heiniö, finnischer Komponist und Musikwissenschaftler, sei es ein weit verbreiteter Glaube, dass Musik aus Finnland naturgegeben typisch finnisch sei. Nicht weit dann der Schluss, dass „Musik, die gewisse Stilelemente einsetzt, von Natur aus typisch finnisch etc.“ sei. Dieses Missverständnis plagte schon Jean Sibelius. Nationale Schule, „Erscheinung aus den Wäldern“, Wiesen und 187.888 Seen. Sonderlich mehr fällt manchen KonzertbesucherInnen, auch MusikkritikerInnen, in unseren Breiten immer noch nicht ein. Seine eigentliche Leistung, meinte Sibelius 1915 im Alter von 50, sei nicht erkannt. Der selbstironische Tagebuchseufzer „Für die meisten wirst du eine Erscheinung aus den Wäldern bleiben“ wird bis heute in Mitteleuropa als Zeitungsaufhänger missbraucht. Als „unverwechselbar finnisch“ wurde 1892 seine eigenwillige Kullervo-Sinfonie abgestempelt. Damals wie heute wollte man finnischen Sommer, finnisches Vogelgezwitscher, Waldweben, den Schall eines Schäferhorns hören. Beneidenswert diese Fähigkeit, aus all dem das Finnische herauszuhören und die Nationalität
von Zugvögeln identifizieren zu können. Diese Fähigkeit war Produkt einer PR-Kampagne. Einen Monat vor der Uraufführung wurde sie gestartet. Die Presse beschrieb Kullervo als „echt finnisch“, „höchst originell“ und als „das bedeutendste finnische Musikwerk, das je geschaffen wurde.“ Wochen zuvor hatte man noch über die „sehr schwierige Sprache“ den Kopf geschüttelt. „Die Melodien erkennen wir als unsere, obwohl wir sie nie auf diese Weise gehört haben.“ Grund: Der schwedischsprachige Sibelius hatte erst im Alter von Mitte 20 finnische Volkslieder kennen gelernt, verließ sich aber nicht auf Folklore, sondern begann bereits in Wien (1890/91) seinen eigenen Stil zu formen. Kullervo wurde dann dem überwiegend schwedischsprachigen, aber fennophil eingestellten, musikalisch mitteleuropäisch sozialisierten Konzertpublikum als typisch finnisch verkauft. Die archaische Wirkung der Kullervo-Sinfonie bewerkstelligt Sibelius aber nicht mit finnischer Folklore, sondern mittels dreier Kunstgriffe: Kirchentonarten, Quartenharmonik, 5/4-Metren.

Der heuer am 27. Juli verstorbene Einojuhani Rautavaara (*1928) hatte in den 70er-Jahren gemahnt, dass das „Bewusstsein von tausenden von Jahren währender europäischer Musiktradition“ im 20. Jahrhundert „noch nicht erwachsen“ geworden sei. Stile und Techniken seien Elemente „ein- und desselben dichten Gewebes.“ Er spricht nicht von Stilmischung, sondern von seinem „Glauben an Synthese“, war sich aber bewusst, dass gegensätzliche Stile und Kompositionsmethoden zum Bruch mit Tabus jeglichen Systems führen. Tabus seien „oft nicht viel mehr als Zeugnisse von Kurzsichtigkeit und oftmals Rassismus.“ Um das, was „der Zeitgeist fordert“, um „Zeitgemäßes“, hat er sich spätestens seit Cantus arcticus (1972) nicht mehr gekümmert: „Zeitgemäße Musik? Was soll das sein? Die Zeit fordert überhaupt nichts, Menschen ja, und deren Forderungen sind zeitbedingt.“ Wer in der Kunst „mit der Zeit geht, ist verurteilt, hinter ihr zurückzubleiben. So schnell kann man nicht schauen, schon sind aus radikalsten Modernisten rabiateste Konservative geworden. Es nützt aber nichts, hochnäsig zu sagen: Wenn meine Kunst nicht im Einklang mit der Zeit ist, so ist das die Schuld der Zeit. Mir wäre lieber, meine Musik wäre zeitlos als im Gleichklang mit der Zeit.“

Seine Schüler Aho, Lindberg, Salonen haben sich, obwohl stilistisch anders verfahrend, ähnlich geäußert, am prononciertesten Kalevi Aho (*1949): „Typisch für die europäische Gegenwart ist ein Freiheitsideal, das auf Oszillation und Pluralität beruht. Daraus leite ich die Unmöglichkeit ab, von einem Zentrum der Musikentwicklung zu sprechen. Ich finde es irgendwie bewundernswert, wie provinziell und chauvinistisch Auffassungen in Paris, London oder Wien sein können. Die Kreise moderner Musik sind dort nicht größer als in Finnland. Vieles, was vor Kurzem als progressiv galt, ist heute veraltet. Das Neue des musikalischen Materials ist kein Wert an sich. Neues entsteht nicht nur aus neuartiger Kompositionstechnik. Wichtiger sind Inhalt, Gehalt und was ich die musikalische Dramaturgie nenne.“

Korvat auki! Ohren auf! Den Werken der KomponistInnen, von denen viele hier genannt wurden, zuhören. Wer weiß: Vielleicht werde ich meine Wette sogar verlieren.

  • Einige Veranstaltungen des mdw Festival’16 finden Sie zum Nachhören- und -sehen in der mdw Mediathek.

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