Christian Poske leitet von August 2024 bis Juli 2027 das Forschungsprojekt Sounds of Trauma: Naga Song Responses to Political Conflict am Music and Minorities Research Center der mdw. Das Projekt wird durch ein ESPRIT-Forschungsstipendium des Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF finanziert.
Wie wird Musik zum Mittel der Artikulation unterdrückter politischer Ansichten und der Verarbeitung von Traumata aus kolonialen und postkolonialen Konflikten, die von exzessiver militärischer Gewalt geprägt waren? Wie haben Lieder die Bestrebungen eines indigenen Volkes unterstützt, einen eigenen Nationalstaat zu gründen, dessen erhoffte Grenzen im Widerspruch zu jenen standen, die vom britischen Imperium hinterlassen wurden? Das dreijährige Forschungsprojekt untersucht diese Fragen aus einer neuartigen interdisziplinären Perspektive am Beispiel der Nagas, einer südasiatischen ethnischen Minderheit, indem Ethnomusikologie, Oral History, Traumaforschung und postkoloniale Studien verbunden werden. Seit Generationen leben zahlreiche kulturell unterschiedliche Naga-Völker im östlichen Himalayagebiet in einer Region, die heute den indischen Bundesstaat Nagaland sowie Teile von Assam, Manipur, Arunachal Pradesh und des nördlichen Myanmar umfasst. Ausgehend vom theoretischen Rahmen des Konzepts „Indigenous Historical Trauma“ (Evans-Campbell 2008) analysiert die Studie, wie Einzelpersonen und soziale Gruppen verschiedener Naga-Völker in ihrer Musik die kumulativen Auswirkungen kolonialer und postkolonialer politischer sowie militärischer Konflikte in ihren Heimatregionen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts thematisieren. Im methodischen Fokus stehen ethnografische Feldforschung, inhaltliche Analyse von Online-Quellen sowie die textliche und musikalische Untersuchung von Kompositionen. Darüber konnten das Highland Institute, ein unabhängiges Forschungsinstitut in Nagaland, sowie das Filmteam TakeOne Nagaland als Projektpartner gewonnen werden. Zu den Projektergebnissen werden eine Monografie, ein Videodokumentarfilm und eine Sammlung von Feldaufnahmen, Gesangsaufführungen und Interviews gehören, die sowohl am Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie der mdw als auch auch am Highland Institute archivarisch aufbewahrt werden sollen.

Aufgrund der äußerst instabilen Lage im Norden Myanmars, wo bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen dem Militärregime und verschiedenen Widerstandsgruppen weiterhin andauern, konzentriert sich die Feldforschung des Projekts auf Nagaland und die angrenzenden Bundesstaaten Manipur, Assam und Arunachal Pradesh im Nordosten Indiens. Auch diese Region war über Jahrzehnte hinweg von inneren Unruhen geprägt, da nationalistische und separatistische Bewegungen lange mit militärischen Mitteln für einen unabhängigen Naga-Staat gekämpft haben. In den vergangenen zwanzig Jahren haben jedoch Waffenstillstände und Friedensabkommen die Konflikte auf der indischen Seite der Grenze deutlich abgeschwächt. Trotzdem bleibt ethnografische Forschung in diesem Gebiet eine große Herausforderung für westliche Wissenschaftler_innen – nicht nur aufgrund der sprachlichen und kulturellen Barrieren, die es zu überwinden gilt, um Vertrauen zu lokalen Gesprächspartner_innen aufzubauen, sondern auch wegen der verstärkten Kontrolle durch staatliche Organe, die den Informationsfluss innerhalb und über die Landesgrenzen hinaus überwachen. So hat die indische Regierung Ende 2024 die Reisebestimmungen für Nagaland und weitere Regionen Nordostindiens geändert – weshalb der vorgesehene Zeitplan für Feldforschung des Projekts abgeändert werden musste.
Im Rahmen des Projekts werden Kontakte zu etablierten Künstler_innen und weniger bekannten Musiker_innen geknüpft, um ihre Lieder über die politische Geschichte Nagalands und der angrenzenden Regionen zu dokumentieren – ebenso wie die persönlichen Biografien, aus denen diese Lieder hervorgegangen sind. Viele dieser Geschichten sind geprägt von direkten oder indirekten Gewalterfahrungen mit militärischen Auseinandersetzungen, die oft individuelles und kollektives seelisches Leid sowie generationenübergreifende Traumata zur Folge hatten. Die Erforschung solcher Erfahrungen erfordert vonseiten der Forschenden ein besonders einfühlsames Vorgehen, vor allem, wenn sie die Beteiligten bitten, einschneidende Ereignisse und psychische wie künstlerische Bewältigungsstrategien bezüglich langanhaltender Konflikte zu reflektieren und mit den Forschenden zu teilen.

Daher kann die Untersuchung musikalischer Reaktionen auf politische und militärische Konflikte „als eine Art angewandte Ethnomusikologie verstanden werden, weil sie darauf abzielt, Erfahrungen und Lebenswerke zu dokumentieren, zu interpretieren und ethisch zugänglich zu machen, die ansonsten aus der offiziellen Geschichtsschreibung ausgeschlossen bleiben würden“ (Pilzer 2015, 482). Es kann also verlockend erscheinen, solche Forschungsinitiativen als Dienstleistung für betroffene soziale Gruppen zu betrachten, deren Konflikterfahrungen und musikalische Ausdrucksformen untersucht werden. Doch eine Haltung, die darauf abzielt, von den Menschen zu lernen und ihnen zuzuhören, erweist sich als weitaus fruchtbarer, als der Versuch, ihnen zu „helfen“, was leicht in paternalistischen Denkmustern münden kann. Ein solcher zugewandter Ansatz kann außerdem dazu beitragen, die kulturellen und sozialen Unterschiede zu überbrücken, die unweigerlich zum Vorschein kommen, wenn ein deutschstämmiger Musikwissenschaftler, der an ener privilegierten Hochschule für Musik angestellt ist, mittels prestigesträchtiger Forschungsförderung die musikalischen Ausdrucksformen einer indigenen Gemeinschaft in einer konfliktgeprägten Region des Globalen Südens erforscht. Selbstreflexion sowie die Bereitschaft, über Fragen der eigenen Positionalität und Privilegien nachzudenken, sind dabei unerlässliche Werkzeuge. Da das Music and Minorities Research Center stets die Notwendigkeit hervorhebt, durch Forschungsansätze potenziell entstehende Machtungleichgewichte und verborgene Hierarchien zu erkennen, ist es daher eine ideale Institution für die Umsetzung des Projekts, bei dem für den Projektleiter weniger Fragen des Prestigegewinns als vielmehr das Ziel der gemeinnützigen musikethnologischen Wissensentwicklung sowie der Anspruch von sozial verantwortungsvoller und kulturell nachhaltiger Forschungsarbeit im Vordergrund stehen.
Literatur
Evans-Campbell, Teresa. 2008. “Historical Trauma in American Indian/Native Alaska Communities: A Multilevel Framework for Exploring Impacts on Individuals, Families, and Communities.” Journal of Interpersonal Violence 23 (3): 316–38. https://doi.org/10.1177/0886260507312290.
Pilzer, Joshua D. 2015. “The Study of Survivors’ Music.” In The Oxford Handbook of Applied Ethnomusicology, edited by Svanibor Pettan and Jeff Todd Titon. Oxford University Press. https://doi.org/10.1093/oxfordhb/9780199351701.013.17.
