Max Brod, enger Vertrauter Franz Kafkas, soll die vielzitierte Formel geprägt haben, Prag sei „hundert Prozent tschechisch, hundert Prozent jüdisch und hundert Prozent deutsch“ gewesen. Diese paradoxe Zuschreibung verweist auf die komplexe kulturelle Konstellation der böhmischen Hauptstadt, in der ethnische, sprachliche und religiöse Zugehörigkeiten nicht trennscharf nebeneinander existierten, sondern ein dichtes Beziehungsgeflecht bildeten. Prag war – neben Wien – ein bedeutendes kulturelles Zentrum der Habsburgermonarchie, in dem sich imperiale, nationale und transnationale Einflüsse überlagerten.

Ein emblematischer Ort dieser Vielschichtigkeit war das 1888 als Neues Deutsches Theater gegründete, heutige Gebäude der Státní opera. Bis zur Zäsur des Jahres 1938 fungierte es als Ort ästhetischer Moderne und transnationaler kultureller Austauschprozesse. Insbesondere unter der Leitung Alexander Zemlinskys, von 1911 bis 1927, entfaltete sich ein ambitioniertes, programmatisch zeitgenössisches Repertoire. Neben eigenen Werken brachte Zemlinsky u. a. Kompositionen von Erich Wolfgang Korngold, Ernst Krenek und Franz Schreker zur Aufführung. 1924 dirigierte er zudem die Uraufführung von Arnold Schönbergs Monodram Erwartung. Als die Wiener Staatsoper im Kontext des drohenden „Anschlusses“ die Uraufführung von Kreneks Oper Karl V. – der ersten zwölftönigen Oper – aus politischer Opportunität unterließ, wurde diese am 22. Juni 1938 in Prag realisiert. Krenek selbst blieb der Aufführung fern – eine Entscheidung, die er retrospektiv als Ausdruck von Furcht vor Verfolgung und Diffamierung reflektierte. Erst 1984 wurde Karl V. an der Wiener Staatsoper nachgeholt.

© Exilarte Zentrum der mdw

In diesem kulturellen Spannungsfeld wuchs Hans (Hanuš) Winterberg auf. Geboren 1901 in Prag als Enkel eines Rabbiners und Kantors in Aussig, erhielt er seine musikalische Ausbildung an der Deutschen Akademie für Musik und darstellende Kunst in Prag, u. a. bei Fidelio Finke (Komposition) sowie Alexander Zemlinsky (Dirigieren). Später studierte er am Prager Staatskonservatorium bei Alois Hába – gemeinsam mit Gideon Klein. Nach dem Zerfall der Monarchie verzeichnete sich die Familie Winterberg in der tschechoslowakischen Volkszählung von 1930 als „česká“ (tschechisch), eine Selbstdefinition, die in einem zunehmend ethno-nationalistischen Klima keineswegs folgenlos blieb. Hans Winterberg heiratete die nicht-jüdische Pianistin Maria Maschat; aus der Ehe ging die Tochter Ruth hervor.

Mit der nationalsozialistischen Okkupation der Tschechoslowakei im Jahr 1939 begann ein Prozess schrittweiser sozialer, ökonomischer und physischer Vernichtung. Die Firma des Vaters wurde zwangsweise „arisiert“, die Mutter 1942 in das Vernichtungslager Maly Trostinec deportiert und dort ermordet. Die Ehe mit Maria Maschat wurde im Rahmen der nationalsozialistischen Rassengesetzgebung zwangsweise aufgehoben, Winterberg zur Zwangsarbeit verpflichtet. Nur durch die späte Überstellung nach Theresienstadt im Jänner 1945 entging er dem Massentransport jüdischer Musiker_innen im Oktober 1944 nach Auschwitz – eine Deportation, die u. a. Viktor Ullmann, Hans Krása, Pavel Haas und Gideon Klein das Leben kostete. Hans Winterberg zählt damit zu den wenigen Überlebenden jener bedeutenden Generation tschechisch-jüdischer Komponist_innen, deren Werke und Biografien durch Shoah, Exil und Verdrängung lange aus dem kulturellen Gedächtnis ausgeschlossen blieben.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Hans Winterberg zahlreiche Angehörige und enge Bezugspersonen verloren. Als Internierter im Ghetto Theresienstadt war er staatenlos, seine Zukunftsperspektive von fundamentaler Unsicherheit geprägt. In dieser existenziell prekären, wenngleich nicht vollständig hoffnungslosen Lage erwies es sich als entscheidender Vorteil, dass er und seine Familie bereits im Jahr 1930 eine tschechische (česká) Nationalitätszugehörigkeit angegeben hatten. Diese frühere Selbstidentifikation bildete die rechtliche Grundlage dafür, dass seine Repatriierung offiziell anerkannt werden konnte und ihm die Beantragung eines tschechoslowakischen Passes ermöglicht wurde. Im Rahmen des Passantrags wurde die 1944 vollzogene Zwangsscheidung von seiner Ehefrau Maria Maschat nicht berücksichtigt. In einem beigefügten Schreiben erläuterte Winterberg seine Beweggründe für den Antrag, wobei er insbesondere auf das Ziel verwies, die im Ausland (i.e. im Besitz von Maria Maschat) befindlichen Notenmanuskripte zurückzuerlangen. Die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen hatten sich nämlich grundlegend durch die Umsetzung der Beneš-Dekrete geändert, die 1946 zur zwangsweisen Ausbürgerung und Vertreibung der deutschen, i.e. nicht-tschechoslowakische Bevölkerung führten. Auch Maria Maschat war hiervon betroffen und musste nach Deutschland auswandern. Winterberg folgte ihr kurz darauf in die Emigration. Die Tschechoslowakei, die in der Folgezeit unter kommunistische Herrschaft geriet, sollte er zeitlebens nicht wieder betreten.

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es Hans Winterberg nur bedingt, sich nolens volens in die sudetendeutsche Gemeinschaft in Bayern zu integrieren. Als jüdischer Emigrant mit tschechoslowakischer Prägung blieb er gesellschaftlich marginalisiert und war fortwährenden Vorbehalten und subtilen Ausgrenzungen ausgesetzt. Seine kulturelle und nationale Identität – insbesondere seine jüdische Herkunft und seine Verbindung zur böhmischen Musikkultur – konnten und sollten nicht in das konservative Selbstverständnis der sudetendeutschen Nachkriegsgesellschaft integriert werden. Obwohl seine Werke vereinzelt im Programm des Bayerischen Rundfunks aufgeführt wurden, blieb ihm eine überregionale Rezeption weitgehend versagt. Dies ist unter anderem den dominierenden Tendenzen in Musikwissenschaft und -kritik der Nachkriegszeit geschuldet, die sich primär der Förderung avantgardistischer Strömungen verschrieben hatten und kompositorische Positionen jenseits dieses Diskurses weitgehend ignorierten oder abwerteten.

Ein besonders kritischer Aspekt der Rezeption Winterbergs betrifft die Behandlung seines künstlerischen Nachlasses. Im Jahr 2002 wurde dieser von seinem Adoptivsohn für 6000 DM an das Sudetendeutsche Musikinstitut in Regensburg, Träger Oberpfalz, verkauft – unter der Bedingung, jegliche Hinweise auf Winterbergs jüdische Herkunft zu unterdrücken und den Nachlass bis zum Jahr 2030 unter Verschluss zu halten. Diese Auflagen stellen einen signifikanten Fall posthumer Ausgrenzung und struktureller antisemitischer Diskriminierung dar, der exemplarisch für den problematischen Umgang mit jüdischem Kulturerbe im deutschsprachigen Raum nach 1945 steht. Erst durch das beharrliche Engagement von Winterbergs Enkel Peter Kreitmeir konnten diese Vorgänge öffentlich gemacht und einer kritischen Aufarbeitung unterzogen werden. In der Folge wurde die wissenschaftliche Erschließung sowie eine editorische Veröffentlichung von Winterbergs Œuvre durch das Exilarte Zentrum der mdw in Kooperation mit dem Verlag Boosey & Hawkes ermöglicht. Aufnahmen von Winterbergs Werken sind bei eda records, Toccata Classics und Capriccio erschienen.

Veranstaltungstipp: Konzert mit Kammermusikwerken von Hans Winterberg
15. Oktober, 19 Uhr, Kleiner Ehrbar Saal

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