„In diesem Kosmos gibt es noch mehr Geschichten zu erzählen“
„Das Ziel ist eine Stärkung des Bewusstseins für Gender/Queer/Diversitäts-Inhalte. Die Studierenden sollen einen Anreiz bekommen, diese Themen in ihre Drehbücher und in die Filmerstellung zu integrieren“, sagt mdw-Lehrende Karin Macher über den Gender/Queer/Diversity-Call (G/Q/D-Call) der Filmakademie Wien. Filmvorhaben mit feministischen, queeren und Diversitäts-Themen werden durch die jährliche interne Ausschreibung finanziell gefördert. Macher unterrichtet Produktion an der Filmakademie und konzipierte den Call, in dessen Jury sie bis 2023 tätig war, von Anfang an mit. Die Darstellung von Weiblichkeit und Männlichkeit abseits von Normen und gängigen Vorstellungen, queere Lebensrealitäten, Fragen zu sozialer Klasse, die Thematisierung körperlicher und psychischer Beeinträchtigungen: Die eingereichten und erfolgreichen Filmprojekte des Gender/Queer/Diversity-Call verdeutlichen, wie breitgefächert das Themenfeld ist.

Meike Wüstenberg studiert Regie an der Filmakademie. Ihr Film Das Ende vom Ende der Welt (2022) wurde durch den G/Q/D-Call mitgefördert. Im Mittelpunkt stehen zwei Schülerinnen, die einen Amoklauf an ihrer Schule planen. „Weibliche Täterschaft hat mich schon vor diesem Drehbuch interessiert. Für mich geht es darum, wie sich Frauenrollen erzählen lassen, die zu einer Form von Gewalt fähig sind, die statistisch mehrheitlich von Männern verübt wird, ohne ihnen stereotypisch maskuline Charakteristika anzudichten“, so Wüstenberg über ihre Filmidee, die aus ihrer Sicht eine breitere Auffassung des Themas Gender zeigt. „Durch dieses Projekt habe ich noch besser verstanden, dass das Kernthema meines filmischen Interesses die Darstellung von Geschlechterrollen ist, die sich außerhalb einer gewissen Norm bewegen. Das inspiriert mich. Und ich habe den Eindruck, in diesem Kosmos gibt es noch mehr Geschichten zu erzählen“, meint die Regisseurin. Meike Wüstenberg setzt sich auch in ihrem anstehenden Abschlussfilm an der Filmakademie mit weiblicher Täterschaft auseinander.

„Der G/Q/D-Call kam zur rechten Zeit, als ich einen Coming-of-Age-Film machen wollte, der auf meinen Erfahrungen als Schülerin in Innsbruck 1996 basierte. Ich war damals die Außenseiterin“, sagt Helen Hideko, Regiestudierende an der Filmakademie, über ihren beim Call erfolgreichen Film Ever After (2025). Die japanisch-schottische Regisseurin zog mit ihren Eltern als Kind Mitte der 1990er-Jahre aus den USA nach Österreich. Ever After zeigt die 10-jährige Isabella, die in der Schule gemobbt wird. Sie ist anders als die anderen Schülerinnen. Als imaginierte Meerjungfrau in einer märchenhaften Fantasie-Unterwasserwelt kann sie vor der Realität flüchten. „Die Transformation in eine Meerjungfrau kann als Allegorie für Anderssein oder Queerness verstanden werden“, so Hideko. Der Film feierte dieses Jahr internationale Erfolge: Ever After war bei den BAFTA (British Academy of Film and Television Arts) Student Awards Finalist in der Kategorie „Live Action“ und Hideko und Teammitglieder bei der Preisverleihung in Los Angeles vor Ort. Im Sommer folgte die Premiere beim Bucheon International Fantastic Film Festival in Seoul, wo der Film den Jurypreis gewann, und darauf die Nordamerikapremiere beim Fantasia Film Festival in Montreal. „Fabeln vom Anderssein interessieren mich generell in meiner filmischen Arbeit“, erklärt die Regisseurin und fügt hinzu: „Die Lehrenden an der Filmakademie verwenden eine Auswahl an internationalen Filmen für ihren Unterricht und natürlich sind viele davon von Regisseur_innen, die Minderheiten angehören und dadurch eine einzigartige Perspektive in ihren Filmen ausdrücken.“

Meike Wüstenberg meint: „Es gibt ein wachsendes Bewusstsein und großes Interesse daran, Geschichten im breiten G/Q/D-Themenfeld zu entwickeln und den Cast diverser zu besetzen. Ein Call wie dieser wirft bei Filmschaffenden eine große Denkmaschine an.“ Im Rahmen der Jurybesprechungen der Projekte wurden weitere Überlegungen darüber angestoßen, welche Lehrveranstaltungen zu G/Q/D-Inhalten angeboten werden sollen. „Durch den Call gibt es viel Auseinandersetzung in der Lehre mit dem Themenfeld“, so Karin Macher. Die gemeinsame Grundausbildung an der Filmakademie hält sie in diesem Zusammenhang für einen wichtigen Hebel in der Stärkung von Frauen in technischen Feldern. Studierende aller Studienrichtungen werden in den ersten drei Semestern weitgehend gemeinsam unterrichtet, um Einblicke in die verschiedenen Bereiche des Filmerstellungsprozesses zu bekommen. „Starke Frauen am Filmset zu haben – da steckt viel Arbeit in der Ausbildung dahinter. In der gemeinsamen Grundausbildung muss sich jede Studierende mit der Technik beschäftigen. Das ist eine Stärkung, die wir an der Filmakademie anbieten, um an ein Set zu gehen“, sagt die Lehrende.

Auch dieses Jahr wurde der G/Q/D-Call der Filmakademie wieder ausgeschrieben. Filminteressierte dürfen sich auf weitere spannende Werke von Filmschaffenden freuen, die sich diskriminierungskritisch mit den Themen Gender, Queer und Diversity auseinandersetzen.
