2014 übernimmt die ausgebildete Musiktherapeutin die musikalische Leitung des von ihr gegründeten Wiener Schmusechors und entscheidet sich damit für einen neuen Karriereweg abseits ihrer eigentlichen Ausbildung. Heute hat die mdw-Absolventin ihre Erfüllung im Dirigieren gefunden und setzt mit ihrem Ausnahme-Chor ein Zeichen für mehr Diversität in der Musikszene.
Verena Giesinger leitet seit 2014 den von ihr gegründeten Wiener Schmusechor und ist seit 2019 Dirigentin und künstlerische Leiterin des femchors. Als Sängerin und Performerin steht sie zudem selbst in verschiedenen Ensembles und Formationen auf der Bühne. © Hanna Fasching

„Ich bin in einer musikalischen Familie aufgewachsen, Musik hat in meinem Leben also schon immer eine große Rolle gespielt.“ Mit sechs Jahren lernt Verena Giesinger Geige, vier Jahre später Klavier. Sie besucht die Musikhauptschule in Götzis und später das Bundesoberstufenrealgymnasium mit musikalischem Schwerpunkt. „Ich habe in Orchestern gespielt, in Trios und Quartetten. Musik war für mich immer wichtig und ich wollte dafür viel Zeit investieren“, erinnert sich die gebürtige Vorarlbergerin. Die Tatsache, dass das musikalische Ausbildungsangebot zum damaligen Zeitpunkt in ihrer Heimat ausschließlich klassische Musik umfasste, machte ihr schwer zu schaffen. „Wir haben in der Schule nur Mozart und Haydn analysiert, das war mir zu wenig. Mich hat Musik immer mehr angesprochen, die ich auch emotional nachvollziehen kann, wie es bei Pop der Fall ist. Diese Musik hat mich im Alltag begleitet, anders als Musik, die vor 200 Jahren ausschließlich von Männern komponiert wurde.“

Ich habe meine berufliche Erfüllung im Dirigieren gefunden und entdeckt, wer ich auf der Bühne sein will.

Der Drang sich mit etwas auseinanderzusetzen, mit dem sie sich auch persönlich identifizieren kann, führt die junge Musikerin zur Musiktherapie. „Das Studium war für mich ein wunderschöner Weg, einen anderen Zugang zum Musizieren zu finden. Außerdem habe ich zu der Zeit geglaubt, dass ein sozialer Beruf die richtige Wahl für mich ist – wobei ich heute sagen kann, dass das vermutlich eher genderstereotype Hintergründe hatte.“ Während des Studiums kommt die angehende Musiktherapeutin mit Studienkolleg_innen und Lehrenden in Kontakt – diese Begegnungen beeinflussen sie bis heute. Ihre Einzeltherapeutin Kristine Dudzus etwa beschreibt sie als Role Model für den Berufsstand der Musiktherapeut_innen sowie als starke, selbstbewusste Frauenfigur. „Sie hat mich dabei unterstützt, meine Berufswahl kritisch zu hinterfragen und aufgezeigt, was es bedeutet Frau zu sein. Ich denke heute noch oft an Aussagen, die sie mir während des Studiums mit auf den Weg gegeben hat.“

Ich habe nach Musiktherapie noch Kultur- und Medienmanagement an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg studiert – beides sind Puzzlesteine, die zu meinem jetzigen Beruf geführt haben.

Nach Abschluss ihres Studiums tritt Verena Giesinger eine Stelle als Musiktherapeutin in der Erwachsenen-Psychiatrie des Donauspitals an. Bald merkt sie jedoch, dass sie Musik nicht nur als therapeutisches Instrument einsetzen möchte. „Ich habe wieder Lust bekommen, nicht nur für andere zu musizieren, sondern auch für mich selbst. Darum habe ich parallel zu meiner therapeutischen Tätigkeit einen eigenen Chor gegründet.“ Durch ihre klassische Instrumentalausbildung und den damit verbundenem Wettbewerbsgedanken, fühlt sich die junge Musikerin in ihrer Jugend oft einem hohen Druck ausgesetzt. Das mehrstimmige Singen im Chor ermöglicht ihr fortan ein freieres Musizieren, ohne einer steten Erwartungshaltung an sich selbst. Was als Hobby in den eigenen vier Wänden beginnt, entwickelt sich rasch zu einem professionellen Chor, der nach einem Dirigat verlangt. 2014 übernimmt Verena Giesinger die musikalischen Leitung des Wiener Schmusechors und entdeckt damit ihre eigentliche Passion. „Ich habe das Gefühl, dass ich einen eigenen Weg gebraucht habe, um Musik neu für mich zu entdecken, einen, der von der klassischen Ausbildung weggeht.“

© Christine Pichler

Heute ist der erfolgreiche Popchor mit seinen rund fünfzig Mitgliedern nicht mehr aus der österreichischen Musikszene wegzudenken. Neben seiner außergewöhnlichen Musikauswahl, den extravaganten Kostümen und seinen spannenden Kooperationen in den Bereichen Theater, bildende Kunst, Tanz oder Film nimmt der Schmusechor zudem eine klare Haltung gegen Sexismus und Rassismus ein. „Wir haben gleich zu Beginn gemeinsam beschlossen, dass wir die große Bühne, sofern wir die Chance bekommen, nutzen möchten, um Menschen mit für uns wichtigen politischen Anliegen zu erreichen und dahinter auch eine gewisse Verantwortung sehen. Dieses Commitment hat sich bis heute gehalten.“ Dass die Botschaften das Publikum erreichen, zeigt sich in teils berührendem und Mut gebendem Feedback. „Wir bekommen den Input, dass sich Leute nach unseren Konzerten neue Gedanken mitgenommen oder sich verstanden gefühlt haben. Aber es gibt natürlich auch Kritik – Menschen, die nicht mit unserer politischen Haltung übereinstimmen.“

Eine Ausbildungsinstitution kann Wege aufzeigen, es bedeutet aber nicht, dass man sie auch gehen muss.

Trotz ihrer beruflichen Neuorientierung ist sie froh, dass sie sich für das Studium der Musiktherapie entschieden hat, bedient sie sich doch nach wie vor der dort erlernten Werkzeuge. „Die Ausbildung hat meinen Horizont erweitert, wie man Musik erleben und ausdrücken kann. Erst da habe ich verstanden, dass Musik machen nicht nur Noten reproduzieren heißt, sondern dass man einen viel freieren Zugang zu seiner Stimme oder seinem Instrument haben darf. Es gibt kein Richtig oder Falsch, sondern man entscheidet selbst, was die eigene Musik sein kann.“ Den heutigen Studierenden wünscht sie, dass es möglich ist, mehr miteinander und weniger gegeneinander zu arbeiten. Das Konkurrenz-Thema in der Musik hat die engagierte Künstlerin stets als kontraproduktiv oder sogar beängstigend empfunden. „Ich glaube, dass wir mehr voneinander lernen können, wenn wir versuchen, das Konkurrenzdenken anzusprechen und uns in einem weiteren Schritt davon zu lösen.“

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