Vor sechs Jahren habe ich mein Studium im Fach Schnitt an der Filmakademie Wien begonnen. Der Schnitt ist ein Prozess der Abenddämmerung einer Produktion, bei dem die gedrehten Bilder und die aufgenommenen Töne zu etwas verwebt werden, das man am Ende als Film bezeichnen darf. Das Wort Schnitt ist für diesen Vorgang nicht das präziseste, weil sich das Denken während des Montageprozesses meist als ein zusammenfügendes und weniger als ein trennendes Element gestaltet. Genau jenes Zusammenfügende ist das Wundersame an dieser Kunstform. Gedanken werden aneinandergereiht und können so äußerst komplexe Empfindungen auslösen. Eine sehr junge Kunstform, kaum 120 Jahre alt, in vielem verwandt mit der Literatur, aber durch ihre Vorsprachlichkeit auf einer ganz anderen Bewusstseinsebene erfahrbar. Dadurch besitzt der Schnitt auch eine höchst manipulative, in den falschen Händen sogar propagandistische Kraft, der man sich immer entgegenstellen sollte. Im besten Falle aber gewährt der Schnitt den Zuschauer_innen einen erlebbaren Gedankenraum, der nicht nur Platz für selbstständiges Nachfühlen lässt, sondern dieses auch fördert. Die Entscheidung für dieses Studium hatte für mich zwei maßgebliche Gründe. Der erste war die Sehnsucht nach den Bildern. In meinem Elternhaus war das Fernsehen ein nur in kleinen Dosen erlaubtes Genussmittel. Selbstverständlich wird einem als Kind das Seltene nur noch begehrenswerter, weshalb ich dann im Jugendalter umso mehr Zeit mit Fernsehen verbrachte. Und immer schon wollte ich wissen, wie diese Bilder gemacht werden, die mich so viele Stunden fesseln konnten. Wie ist es möglich, Bilder und Töne so anzuordnen, dass sie einen Menschen zum stundenlangen Zusehen verleiten? Der zweite Grund war meine Begeisterung für den künstlerischen Prozess. Weil ich statt fernzusehen meist mit Legosteinen spielte, machte ich immer wieder die magische Erfahrung, die man heute gerne als Flow bezeichnet. Ein beglückender, selbstvergessener Zustand, in dem man ganz in einer Tätigkeit aufgeht, nicht mehr bewusst denkt, sondern wie von einer höheren Macht geleitet ganz selbstverständlich die richtigen Schritte unternimmt. Ein wundersamer Zustand, ganz unmöglich bewusst herbeizuführen, aber dadurch umso zauberhafter. Im Schnittprozess ist diese Selbstvergessenheit unter den richtigen Umständen oft erlebbar. Das Material liegt abgeschlossen vor einem und die Beschränkung darauf lässt einen geistigen Muskel stark werden, der zwischen Logik und freier Assoziation liegt. Die Möglichkeiten sind in ihrer Anzahl unbegrenzt, aber in ihrer Qualität beschränkt. Man kann eine Einstellung entweder länger stehen lassen, kürzen, entfernen oder an eine andere Stelle schieben. Dasselbe gilt für den Ton. Mit diesem überschaubaren Werkzeugkasten und der gleichzeitig unbegrenzten Fülle an zu vermittelnden Gedanken stößt man immer wieder auf erstaunliche Zusammenstellungen, in ihrer Ausführung per Mausklick ganz leicht, aber in ihrer Komplexität äußerst vielschichtig.

Neben den zwei klassischen Gattungen Spiel- und Dokumentarfilm hat sich beinahe unbemerkt eine dritte Filmspezies entwickelt, die sich für mich als die künstlerisch Vielversprechendste herausgestellt hat. In meinem vierten Semester an der Filmakademie wurde ich auf ein kleines Wahlfach mit dem schlichten Titel „Essayfilm“ aufmerksam. Die Filme, die hier gezeigt wurden, hatten wenig mit den vielen Filmen zu tun, die wir sonst im Laufe des Studiums ansahen. Höchst persönliche Bilder waren da zu sehen, oft von den Regisseur_innen selbst gedreht, tagebuchartige Impressionen von der Außenwelt der Filmemacher_innen, die aber eine komplexe Innenwelt abbildeten. Dazu meist die Stimme der Regisseur_innen selbst, als Erzählende, Denkende, Träumende. Filme, die klassisch narrative Strukturen verweigerten, aber trotzdem nicht als Experimentalfilme oder Videokunst bezeichnet werden konnten, in einem Schwebezustand zwischen Literatur und Film. Das Bildersammeln beim Essayfilm als ein mäandernder Vorgang, das Finden des Themas mit der Kamera, ohne Planbarkeit und Organisation. Erst im Schnitt schält sich dann das Thema des Films heraus; ein langsamer, sich über viele Monate erstreckender Prozess, in dem der Film erst zu seiner Sprache findet. Es war begeisternd zu sehen, dass sich Filme auch auf eine solch weiche Art gestalten lassen, die spröden Strukturen aufgelöst, die Macher_innen jederzeit in der Lage Form und Inhalt vollkommen neu zu denken. Der Filmemacher Andrej Tarkowskij schrieb 1984: „Die meiner Meinung nach für das Kino der Zukunft verhängnisvollste Tendenz liegt im Bestreben, das auf dem Papier Niedergeschriebene getreu und genau in seiner Arbeit wiederzugeben, zuvor erdachte, häufig rein spekulative Konstruktionen auf die Leinwand zu übertragen. Filmisch kreative Arbeit erfordert schon ihrer Natur nach Lust zu unmittelbarer Beobachtung der lebendigen und veränderlichen, sich in ständiger Bewegung befindlichen Welt.“ Wir versuchen im Schnitt der intrinsischen poetischen Wahrheit eines Films näherzukommen, ein Suchen im Material nach den im Dunkel funkelnden Gedanken. Die Grenzen des Materials verlaufen so klar, dass die Freiheit innerhalb der vorliegenden Bilder und Töne riesig wird. Nicht nur das Bild an sich spricht, sondern weit darüber hinaus die Reihung der Bilder, ihre Rhythmik, ihre Anfänge und ihre Enden. Geleitet von der Spur der Töne bewegen wir uns vorwärts, schaffen Strukturen, wo vorher keine waren, finden ehemals verstellte Durchblicke in unsere Seelen und können so vielleicht ein kleines bisschen mehr verstehen, was Kunst heißt.

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