„Die Menschen wurden aufgerüttelt, politisiert, sie brauchen weitere Vernetzung und unsere Unterstützung!“

Olga Shparaga, Philosophin, Aktivistin und Autorin (Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus), hielt anlässlich des Jahrestags der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 2021 einen Vortrag an der mdw.
Der erste Sonntagsmarsch nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen am 16. August 2020 © Olga Shparaga

Dezember 2021: Die Krise an der belarussischen Grenze dominiert seit Wochen die mediale Berichterstattung. Die Europäische Union wirft dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko vor, tausende Geflüchtete gezielt an die EU-Außengrenzen zu schleusen, um die Einstellung der Wirtschaftssanktionen und die Anerkennung seiner „Wiederwahl“ im August 2020 zu erzwingen.

Seit den gefälschten Präsidentschaftswahlen verließen hunderttausende belarussische Bürger_innen aufgrund des andauernden staatlichen Terrors das Land. Olga Shparaga ist eine von ihnen. Als Mitbegründerin der feministischen Gruppe im Koordinationsrat der demokratischen Opposition wurde sie im Oktober 2020 inhaftiert. Um einem drohenden Strafprozess zu entgehen, floh sie nach Vilnius. Derzeit lebt Olga Shparaga1 im Berliner Exil und ist Fellow am dortigen Wissenschaftskolleg.

Olga Shparaga © Stephan Polzer

In ihrem Vortrag2 stellt sie dar, welche gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen, darunter die Unzufriedenheit mit der autokratischen Politik, die Aushöhlung politischer Rechte und die Bildung einer neuen Mittelschicht, das Entstehen einer von allen beruflichen und sozialen Gruppen getragenen Demokratiebewegung ermöglichten. Die gesellschaftliche Vernetzung und Solidarisierung wurde durch unabhängige digitale Plattformen und soziale Medien3 maßgeblich unterstützt. Nachbarschaftsinitiativen wie die „Hofgemeinschaften“ verzeichneten 1.155 solcher digitalen Kanäle, mittels derer Versammlungen, Vorträge und Konzerte in den Höfen der Städte organisiert wurden. Gegen die paternalistische Staatsführung Lukaschenkos, der sich als „Vater der Nation“ inszeniert, wurden Solidaritätsketten und Frauenmärsche initiiert, die laut Olga Shparaga als Symbol bürgerschaftlicher Emanzipation und „weiblicher Subjektwerdung“ wahrgenommen werden können.

Ulrike Sych & Renata Schmidtkunz © Stephan Polzer

Sie zeigten auf, dass häusliche Gewalt und andere Formen der Gewalt eng mit der staatlichen Gewalt einhergingen. Das „vereinigte Frauenteam“ von Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa und Veronika Tsepkalo stand dabei für neue politische Führungspersönlichkeiten, die maßgeblich zur sozialen Aktivierung der Gesellschaft beitrugen. Mit ihrem Appell zur Teilhabe an den Wahlen als bürgerliches Grundrecht wandten sie sich an die Zivilgesellschaft in ihrer ganzen Breite. Die Flötistin, Dirigentin und Kulturmanagerin Maria Kolesnikowa ist, da sie sich gegen das Exil und damit für eine lange Haftstrafe entschied, zur Symbolfigur der gesamten Bewegung geworden.

Was war so wichtig an den Aktivitäten von Frauen innerhalb der Demokratiebewegung? Wichtig war, dass sie neue Ideen und Strategien eingeführt haben. ‚Friedlich‘, ‚horizontal‘ und ‚kreativ‘, mit diesen Worten kann man diese Aktivitäten und die Rolle von Frauen charakterisieren. Die beteiligten Frauen waren sehr verschieden, sie hatten unterschiedliche Anliegen. In meinem Buch habe ich Judith Butlers Begriff der ‚Assemblage‘ benutzt, um die Form der Vernetzung und Verbindung von Frauen während der verschiedenen Phasen der Proteste zu bezeichnen. Eine sehr wichtige Rolle in der politischen Aktivierung der Frauen spielte die Schwesterlichkeit, die Erfahrung der gegenseitigen Hilfe, vor allem im Gefängnis, aber nicht nur dort. Und diese Erfahrung hat es auch in der gesamten belarussischen Gesellschaft gegeben. Die Wahlen fanden am 9. August statt, und danach gab es drei Tage des Terrors, mehr als 6.000 Menschen wurden verhaftet, gefoltert. Am 12. August ist dann die erste Kette der Solidarisierung entstanden. […]

Am 15. August 2020 initiierten Künstler_innen vor dem Palast der Künste in Minsk die Aktion „Spuren des Terrors“ © Olga Shparaga

Das wichtigste Dilemma, mit dem die Menschen in Belarus seit der neuen Welle an politischen Repressionen im Frühling 2021 immanent zu tun haben, ist: ‚Fliehen unmöglich – Bleiben unmöglich‘. Wir haben schon gehört, dass seit dem Sommer 2020 über 40.000 Menschen in Belarus inhaftiert wurden, gegen 4.000 Personen wurden Strafverfahren eingeleitet. Es handelt sich jetzt schon um 450 Nichtregierungsorganisationen, die gewaltsam vom Staat geschlossen wurden. Aktuell hat die Menschenrechtsorganisation Wjasna4 bereits mehr als 900 Menschen als politische Gefangene dokumentiert, darunter 30 Journalist_innen und 37 Studierende. Wir wissen, dass sich Belarus noch immer in einer schweren Krise befindet.

© privat zur Verfügung gestellt

Dabei zeigen die Menschen in Belarus weiterhin Beispiele für Mut und Widerstand. Die Aktivist_innen bleiben im Land, obwohl sie wissen, dass sie höchstwahrscheinlich verhaftet und zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt werden. Taciana Niadbaj, stellvertretende Vorsitzende von PEN Belarus, die derzeit aus Warschau das PEN-Zentrum leitet, hat vor Kurzem geschrieben: ‚Gute Taten fordern in der heutigen Situation Stille, um nicht die Aufmerksamkeit der repressiven Maschine auf sich zu ziehen.‘ Sie hat auch die Forschungen des PEN-Zentrums dargestellt, die von Januar bis September 2021 1.032 Beispiele von Menschenrechtsverletzungen an Kulturschaffenden in Belarus dokumentieren. Und diese Zahl wird größer. Das bedeutet, dass die Krise nicht vorbei ist, sondern größer wird. Vor einem Jahr standen diese Menschenrechtsverletzungen mit den Protesten auf der Straße in Verbindung. Im Jahr 2021 hingegen setzt sich die Verfolgung in ‚versteckten Formen‘ fort. Hier handelt es sich etwa um Entlassungen und verschiedene Formen der Unterdrückung von Meinungsfreiheit. Die Leute geraten ins Gefängnis, weil sie eine Kerze zum Todestag von einem der Protestierenden angezündet oder mit einem Tattoo politisch protestiert haben. Es geht um Einschüchterungen, Festnahmen und Prozesse gegen aktive Bürger_innen, um Folter in den Gefängnissen, Entzug der elterlichen Rechte und andere Formen der Verfolgung.

Teilnehmer_innen eines musikalischen Protests vor der Belarussischen Staatlichen Philharmonie in Minsk, 17. August 2020 © Olga Shparaga

Maria Kolesnikowa schrieb vor Kurzem in einem Brief aus dem Gefängnis: ‚Am notwendigsten ist es, einander zu helfen und einander zu unterstützen. Uns verbindet ein gemeinsames Ziel: das freie und demokratische Belarus, in dem der Mensch den höchsten Wert hat …‘ Diese Zitate zeugen davon, dass es kein Zurück gibt. Dass das, was 2020 in Belarus geschah, eine Perspektive für die Zukunft darstellt. Die Menschen wurden aufgerüttelt, politisiert, sie brauchen weitere Vernetzung und unsere Unterstützung. […]

© Stephan Polzer

Um über die Situation im Jahr 2021 zu sprechen, benutze ich drei Begriffe: Widerstand, Sorge, Geduld. Ich habe diese Begriffe vor einem halben Jahr benutzt und benutze sie weiter. Mir scheint, dass es immer noch um Widerstand geht – wenn auch weniger um Protestkundgebungen, so doch um verschiedene partisanische Formen des Widerstandes. Wir brauchen natürlich Geduld, denn dieser Weg ist lang. Der Begriff der Sorge ist ein sehr wichtiger Begriff für mich. Es geht in ihm um die gegenseitige Unterstützung, um das Prinzip des horizontalen Zusammenwirkens sowie um die Selbsttransformation und Selbstwahrnehmung der belarussischen Gesellschaft.

Mit der Sorgegemeinschaft verbinde ich die demokratische Zukunft für Belarus und sehe diese als eine Alternative zur ‚nationalen Gemeinschaft‘5.

Der gesamte Vortragsabend und das daran anschließende Gespräch mit Renata Schmidtkunz sind online abrufbar unter: mediathek.mdw.ac.at/menschenrechte2021

Die wichtige Initiative „Political Prisoner – My Friend“ (politzek.me/en) bietet Interessierten die Möglichkeit der Unterstützung per Briefbotschaft.

  1. Nähere Informationen zur Vortragenden und Moderatorin siehe: mdw.ac.at/menschenrechte
  2. Transkription des Vortrags: Heidi Wilm, bearbeitet durch Julia Kordina und Heidi Wilm. Quellenangaben: Olga Shparaga.
  3. Vgl. Gregory Asmolov (2020, 1. September).

    The path to the square: the role of digital technologies in Belarus’ protests. OpenDemocracy. www.opendemocracy.net/en/odr/path-to-square-digital-technology-belarus-protest

  4. Siehe: prisoners.spring96.org/en
  5. Vgl. Olga Shparaga. A Feminist Framework for Understanding of the Role of Women in the Belarusian Revolution: Domestic Violence, Care, and Sisterhood. www.iwm.at/blog/a-feminist-framework-for-understanding-of-the-role-of-women-in-the-belarusian-revolution
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