Im Keller meines Elternhauses steht ein alter Holzkasten, dessen rote Farbe schon ganz abgeblättert ist. Wenn man ihn öffnet, findet man in den Fächern allerlei Krimskrams. Farbdosen, einen Werkzeugkasten, einen Stapel Fliesen, die zu keinem der Zimmer im Haus passen. Und eine breite Schachtel, in die einst ein Bügeleisen verpackt gewesen war. In dieser Schachtel befinden sich zwei Fotoalben, einige Briefe, eine Armbanduhr und ein Adressbuch. Das ist alles, was vom Leben meiner Urgroßmutter übriggeblieben ist.

Irgendwann während des ersten oder zweiten Lockdowns, man kann sie im Rückblick kaum noch unterscheiden, fiel mir diese Schachtel in die Hand, und ich wollte plötzlich mehr wissen über meine Urgroßmutter, als mir die vergilbten Fotos erzählen konnten. Also begann ich zu recherchieren. Und ich war nicht die Einzige. Die Zugriffe auf die digitalisierten Kirchen- und Zeitschriftenarchive online sind seit Pandemiebeginn so hoch wie noch nie. Ahnenforschung boomt, liest man. Und es verwundert auch nicht. Kontaktsperren, geschlossene Kultureinrichtungen und die Reduzierung des Soziallebens werfen die Menschen auf sich selbst zurück. Existenzielle Fragen nach der eigenen Herkunft, nach dem Leben der Ahnen tauchen auf. Und die Hoffnung, durch die Recherche wenigstens einige davon beantworten zu können.

Als ich begann, virtuell in Geburtenbüchern zu blättern, wurden mit einem Mal ganze Frauenleben vor mir sichtbar, als hätte ich eine neue, packende TV-Serie entdeckt.

Ihre Geburt, die Eheschließung, die Übersiedlung, die Geburt ihrer Kinder, der Tod ihrer Kinder, der Tod ihres Mannes, der eigene Tod. All die vermeintlich verstaubten Bände mit den handgeschriebenen Einträgen berichteten von Schicksalen.

Davon, wer wohin gehören durfte und wer nicht. Und mit einem Mal wurde mir klar, dass Archive mehr sind als nur eine Ansammlung von Zahlen und Daten. Sie sind Zeugen unserer Erinnerungen. Sie erzählen unsere Geschichten. Man muss sie nur zwischen den Zeilen entdecken.

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