Das künstlerische Forschungsprojekt Confronting Realities rollt die brisante Frage nach der sozialen Herkunft von Künstler_innen auf und beleuchtet dabei Grenzen und Chancen der Filmproduktion.

Schauspielen, Filme machen, Kunst schaffen – das klingt nach Freiheit, nach endlosen Gedankenräumen, nach Unabhängigkeit. Ist es auch, sagen Bruno Kratochvil und Tamim Fattal, die im Rahmen des Pilotprojekts mit Negin Rezaie und Enzo Brumm den Essayfilm Dreamers. Disformed figures of our past umsetzen. Dennoch hat die Traumfabrik Kunst ihre Arbeiter_innen fest im Griff, denn sie ist selbst eine Produktionsstätte, die kategorisiert, hierarchisiert, ein- und ausschließt. Dürfen die eigene Lebensgeschichte, die eigenen Träume und Wünsche Platz finden, in einem oft hierarchischen Produktionsverhältnis? Ja, kommt man entgegen vielfältiger Ausschlussmechanismen von Herkunft über Status, Alter, Geschlecht und Religion überhaupt dazu, sie zu erzählen?

Confronting Realities will genau das: Erzählen. Das künstlerische Forschungsprojekt gibt seinen Teilnehmenden theoretisches und praktisches Handwerkszeug für eine filmische Aufarbeitung der eigenen Soziobiografie. Sechs Studierende der Filmakademie arbeiten mit acht Performer_innen in einem Workshop und anschließendem Filmlabor daran, Herkunft und Lebensrealitäten aller Beteiligten als Materialfundus für filmisches Geschichtenerzählen zu erkunden. Barbara Wolfram, die das Projekt an der Filmakademie Wien gemeinsam mit Nina Kusturica, Christina Wintersteiger und Elena Meilicke unter der Leitung von Claudia Walkensteiner-Preschl betreut, konnte insbesondere dank ihrer Arbeit mit der Evolve Theatre Company Performer_innen aus diversen sozialen Hintergründen als Artistic Researcher gewinnen. Mit dem Projekt möchte sie sich aus dem tendenziell homogenen Kunsthochschulhintergrund herausbewegen und den Teilnehmer_innen ermöglichen, ihren Blickwinkel zu verändern. Denn in der Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie, so Wolfram, merke man schnell, mit wie vielen Selbstverständlichkeiten man geradezu ahnungslos lebt. „Wir sind äußerst privilegiert. Ich verstehe es als unsere Bringschuld, Lebensrealitäten kennenzulernen, die von unseren divergieren. Wir können keine Schicksale ausgleichen, uns selbst aber mit dem Leben anderer konfrontieren. Es liegt in unserer Verantwortung, die gefühlte und gelebte Wirklichkeit filmisch so darzustellen, wie sie für die Betroffenen tatsächlich ist. Und eben nicht unsere Vorstellungen davon, wie die Welt funktioniert.“

©Christina Wintersteiger/Filmakademie Wien

Das Projekt bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Selbstreflexion und Fremdwahrnehmung. Neben grundlegender theoretischer Begriffsarbeit stehen daher Gefühl und Körper im Zentrum des Workshops. „Aus dem Kopf raus kommen“ ist Programm: Wolfram, selbst Theaterschaffende, Psychologin und Filmwissenschaftlerin im PhD an der Filmakademie, führt die Studierenden und Performer_innen durch unterschiedliche Strategien an die Auseinandersetzung mit der eigenen Autosoziobiografie heran. Aufmerksamkeitsübungen sowie Selbst- und Gruppenwahrnehmung sollen ermöglichen, auch die körperlich verankerte Biografie kennenzulernen – etwa indem sie Erinnerung an Gerüche, Geschmäcker, Geräusche animieren. Die Teilnehmenden werden über einen Fragebogen an die Biografiearbeit im Kontext der sozialen Klasse herangeführt. Auch das Unbewusste spielt eine zentrale Rolle in der Auseinandersetzung: Mithilfe eines biografischen und eines abstrakten Fragebogens (z. B. „How do I make a cup fall in love with me?“) werden die Teilnehmenden dazu angehalten, ihre Emotionen zu benennen und sich außerdem über unbewusste Ausschlussmechanismen klar zu werden.

Dass hier intime Themen und starke Gefühle hochkommen, war Barbara Wolfram und dem Team von Anfang an bewusst: „Es ist wichtig, die Teilnehmenden abzuholen. Wir haben versucht, darauf vorzubereiten, welche Emotionen aufkommen können – Scham ist bei der Bearbeitung von Autosoziobiografien ein besonders wichtiges Thema. Grundsätzlich gilt: Alles darf, nichts muss gesagt werden.“

Die intensive Zusammenarbeit in den entstandenen drei Projektgruppen schafft Vertrauen für die Bearbeitung schwieriger Lebenserfahrungen. Im Projekt Dreamers. Disformed figures of our past übersetzt Drehbuchstudent Bruno Kratochvil die Lebensrealitäten dreier Performer_innen filmisch: Tamim Fattal ist Syrer und asylberechtigt, spielt erfolgreich am Theater in der Josefstadt; Enzo Brumm ist ein Fashionmodel aus Hamburg und studiert am Max Reinhardt Seminar; Negin Rezaie ist Künstlerin und Performerin, aus dem Iran geflohen und lebt ohne Asylstatus in Wien. Die Künstler_innen blicken gemeinsam auf gesellschaftliche Zustände, die sich in ihren Biografien festschreiben – von Aufenthaltstitel über Schönheitsideale und Geschlecht.

Die Gruppe will ihren individuellen, durchaus divergierenden Lebenserfahrungen Gemeinsamkeiten entgegensetzen. Für Bruno Kratochvil ist diese Kontroverse stets präsent: „Ich kann nicht authentisch erzählen, wie es Tamim oder Negin auf der Flucht ergangen ist. Was ich machen kann, ist, ihnen Raum für ihre Geschichten zu geben. Ich suche Bilder, die ein Gefühl oder Eindrücke von damals widerspiegeln können – diese lassen sich leicht im Leben der anderen wiederfinden. Denn was uns eint, sind Einsamkeit, Liebe, Trauer und nicht zuletzt unsere Träume und Hoffnungen.“

Confronting Realities wird für Kratochvil zum Sprachrohr: Geschichten wollen zuallererst erzählt werden, weil sie auf etwas hinweisen möchten – und werden so politisch. Auch die Gefühle auf der Leinwand sind Politik, zeigen sie doch eine tiefe Berührung, einen Missstand auf. Dem Beschreiben und Darstellen wohnt so eine immense Macht inne, die Kratochvil als zentral für das Projekt ansieht: „Aus einer passiven Haltung, wo andere uns anschauen und uns Dinge zuschreiben können, kommen wir hier in eine Position des Aktiven, des Schaffenden.“

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