Bei den traditionsreichen Wiener Tagen der zeitgenössischen Klaviermusik, die von 30. Jänner bis 3. Februar 2026 (bereits zum 32. Mal) an der mdw stattfinden werden, ist dieses Mal Tristan Murail zu Gast – ein willkommener Anlass, um diesen spannenden Komponisten in einem Kurzporträt zu präsentieren.

Tristan Murail wurde 1947 in der nordfranzösischen Hafenstadt Le Havre geboren, ein Ort, der neugierigen jungen Menschen in der Nachkriegszeit kaum kulturelle Impulse zu bieten hatte. Die Situation änderte sich, als seine Familie (sein Vater Gérard war Dichter, und seine Geschwister widmeten sich ebenfalls der Literatur) in die Metropole Paris zog. Dort studierte Murail Politik und Wirtschaftswissenschaften. Außerdem spielte er die Ondes Martenot, ein Musikinstrument aus den Pionierjahren der Elektronik. Dadurch ergab sich ein Kontakt zu Jeanne Loriod, der weltweit besten Ondes-Martenot-Interpretin, die Olivier Messiaens Schwägerin war, und schließlich auch zu Messiaen selbst. Der konstatierte, dass Murail ein ausgezeichnetes Gehör hatte und stellte ihm die folgenreiche Frage, ob er nicht Komposition studieren wolle. Und 1967 wurde Murail tatsächlich Messiaens Schüler.

© Radio France / Christophe Abramowitz

Das Umfeld, das sich dem jungen Murail eröffnete, war stark von den Nachbeben der Avantgarde der 1950er-Jahre geprägt. In den Köpfen vieler Komponist_innen dominierte nach wie vor das postserielle Strukturdenken: Man ging von Parametern (etwa von der Tonhöhe oder -dauer) aus und entwarf Strategien, wie diese strukturell geordnet werden könnten. Die Hegemonie dieses Denkens hatten aber bereits seit längerer Zeit einige Rebellen radikal hinterfragt: So spürte Giacinto Scelsi dem Innenleben der Töne nach und betrachtete sie nicht mehr als Einzelparameter, sondern als unermessliche mikroskopische Klanguniversen. Iannis Xenakis und György Ligeti entfernten sich ebenfalls vom Denken in Tönen, indem sie Klangbündel und -flächen formten. Später – in seinem Text Revolution der komplexen Klänge – überlegte Murail, ob nicht diese Komponisten die eigentlichen Revolutionsführer der Neuen Musik gewesen seien.

Wie auch immer: Murail knüpfte an Scelsi, Xenakis und Ligeti an. Dazu kam etwas Entscheidendes hinzu: In den 1970er-Jahren eröffneten sich völlig neue technische Möglichkeiten, das Klanginnere zu erschließen – von den ersten Sonagrammen (also grafischen Reproduktionen von Klangspektren) bis zur späteren Live-Elektronik. Dieser technische Innovationsschub bot jungen Komponist_innen eine Welt klanglich unerhörter Details. Murail hat all diese Entwicklungen vorangetrieben und mitgeprägt. Dabei war ihm vor allem die praktische Umsetzung wichtig: 1973 gründete er zusammen mit einigen Kollegen das Ensemble L’Itineraire (die Wegstrecke). Im Zusammenspiel zwischen Klangforschung, Komposition und Interpretation bildete sich nach und nach eine neue Ästhetik heraus – die sogenannte „musique spectrale“ (Spektralmusik).

Das „spektrale“ Komponieren (dieser Terminus ist bis heute umstritten, aber wohl nicht mehr aus der Welt zu schaffen) ist nicht mit einem Auskomponieren von Obertonspektren zu verwechseln: Spektren im Sinne Murails umfassen den ganzen Bereich von spektraler Reinheit bis zum weißen Rauschen. Viele dieser komplexen Klänge finden sich in Murails Werken, wobei sich die Klangästhetik seiner Musik schrittweise modifizierte. Dies liegt zum einen an den erörterten technischen Innovationen: Während er in Treize couleurs du soleil couchant (1978) und Gondwana (1980) Ring- oder Frequenzmodulationen noch händisch berechnen musste, konnte er in L’Esprit des Dunes (1993/94) bereits auf Detailanalysen nicht nur stationärer Klangausschnitte, sondern auch zeitlicher Klangevolutionen zurückgreifen. Zum anderen ist, wie bei fast allen Komponist_innen der Spektralmusik, eine Abkehr vom ursprünglichen Purismus spektraler Klangprozesse zu bemerken. Immer mehr integriert Murail auch literarische Bezüge und spielt auf ältere Formen an. Die computergestützte Technik tritt in den Hintergrund, und er verlässt sich auf sein exzellentes Gehör und sein Gespür für die psychologische Formung des Zeitverlaufs.

Murail ist auch ein renommierter Pädagoge: 1997 wurde er zum Professor für Komposition an der Columbia University New York ernannt, wo er bis 2010 lehrte. Später war er Gastprofessor an der Universität Mozarteum Salzburg und auch am Shanghai Conservatory. Dort zeigte sich, dass die Klangorientierung der Spektralmusik faszinierende Berührungspunkte zum chinesischen Musikdenken aufweist. Und es ist wohl kein Zufall, dass Murail sein bis dato jüngstes Werk (Le Livre des Merveilles, 2024) für die chinesische Wölbbrettzither Guzheng, Instrumente und Elektronik komponierte.

Insbesondere nach 2000 hat Murail eine größere Zahl an Klavierwerken vorgelegt. In ihnen gelingt es ihm, Rückschau zu halten und gleichzeitig eine neugierige und experimentierfreudige Haltung zu wahren. Diese Klaviermusik wird daher auf der ganzen Welt von zahlreichen Interpretinnen und Interpreten – darunter vielen Studierenden – gespielt. unter anderem auch an der mdw. Wir freuen uns auf die spannende Begegnung mit diesem großen Musiker.

Comments are closed.