Jan Jiracek von Arnim, 2001 als bisher jüngster Professor für Klavier an die mdw berufen und seit 2011 künstlerischer Leiter des Internationalen Beethoven Klavierwettbewerbs Wien, im Gespräch über den richtigen Atem, den Nutzen von Tanzkursen für das Musizieren und seine zwiespältige Meinung über das Kompetitive in der Kunst.

Seit 1961 wird an der mdw alle vier Jahre der Internationale Beethoven Klavierwettbewerb ausgetragen, in diesem Jahr somit zum 17. Mal. Gestatten Sie mir eingangs eine persönliche Frage: Wenn Sie die Möglichkeit hätten, mit dem Namensgeber zu sprechen, was würden Sie von ihm wissen wollen?

Jan Jiracek von Arnim (JJA): Da gäbe es vieles! Aber am brennendsten wäre für mich die Frage nach seinen Tempoangaben, die teilweise rätselhaft sind. Einige seiner Metronomzahlen lassen sich bis heute nicht wirklich nachvollziehen. Es gibt ja die Theorie, dass sein Gerät kaputt gewesen sei oder dass er es falsch abgelesen habe. Und dann existiert auch der interessante Bericht, dass einmal auf dem Weg nach London eine Partitur verloren gegangen sei und er sie dann nochmal geschickt habe – mit ganz anderen Tempoangaben. Das wäre also wirklich spannend. Allerdings bin ich jemand, der sich auch sehr gerne in Briefen oder anderen Dokumenten vergräbt. Insofern spricht Beethoven nicht nur durch seine Partituren zu mir, sondern auch durch seine Worte in Texten oder in den Berichten, die uns etwa sein Schüler Carl Czerny hinterlassen hat.

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Egal, wie genau man die Quellen kennt: Wie viel von seinen tatsächlichen Intentionen lassen sich nachvollziehen? Natürlich existiert eine durchgehende Lehrer-Schüler-Tradition, die gerade in Wien bis in die Gegenwart reicht, aber es gibt auch von Generation zu Generation Weiterentwicklungen. Wie nahe kommt man also interpretatorisch tatsächlich an Beethoven heran?

JJA: Ich vergleiche das gerne mit einer Bergbesteigung. Man bezwingt einen Berg nicht, sondern man ist immer nur zu Besuch auf dem Gipfel. Wenn ich mich als Interpret mit Beethoven beschäftige, ist das eigentlich ähnlich. Ich kann versuchen, mich dem Werk anzunähern, es auszuleuchten und zu erspüren. Aber ich empfehle meinen Studierenden immer, sich auch die Faksimiles seiner Noten anzuschauen. Es ist schon ein immenser Vorteil an der mdw, dass wir uns sehr nahe an den Quellen befinden. Es ist unsere Aufgabe als Lehrende, deutlich zu machen, dass wir immer wieder zurück zum Ursprung müssen.

Heißt das nicht auch, dass man sich mit der Frage beschäftigen müsste, welche Instrumente Beethoven zur Verfügung hatte?

JJA: Unbedingt! Es ist unglaublich lehrreich, selbst zu erforschen, wie die Instrumente klangen, die ihm zur Verfügung standen. Im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg gibt es einen Brodmann-Hammerflügel von etwa 1815. Wenn man dort die sogenannte Mondscheinsonate spielt und im dritten schnellen Satz auf die tiefste Taste springen muss, hat dieses Instrument direkt daneben eine spitze Verzierung aus Metall. Da hat man ein bisschen Angst, wirklich an die Grenze zu gehen. So etwas erfühlt man erst, wenn man einmal auf so einem Instrument spielt. Ein anderer Aspekt sind die klappernden Geräusche der Hämmer, die in diesem Satz fast schon ein Stilmittel bilden – bei einem modernen Flügel fehlt das natürlich völlig, und auch Beethovens Pedal-Wirkungen sind nur auf den alten Instrumenten ganz umsetzbar.

Sie sprachen anfangs vom Tempo. Czerny berichtet, dass sich Beethoven nach einer Aufführung als Erstes nach diesem Punkt erkundigt habe. Findet man als Interpret_in hier die „richtige“ Lösung eher durch die Intuition oder durch historische Quellen?

JJA: Nachdem ich eigentlich von der Kirchenmusik komme, weil meine Mutter Organistin war und Kirchenchöre geleitet hat, sind für mich der Puls und der Atem ganz zentral. Ohne diesen Faktor funktioniert es nicht, eine Gemeinde zum Singen anzuhalten. Wenn ich mich frage, welches Tempo das richtige ist, gehe ich meistens vom Atem des Sängers oder der Sängerin aus oder vom Bogen eines Geigers oder einer Geigerin.

Was ist abgesehen davon für Sie bei der Beethoven-Interpretation der wichtigste Aspekt?

JJA: Die Klarheit der Linie! Ich stelle häufig fest, besonders wenn ich im Ausland unterrichte, dass häufig aus manchen Auftakten oder Verzierungen große expressive Effekte und subjektive Emotionalität gemacht werden, die ziemlich unpassend sind. Chopin sagte: „La dernière chose, c’est la simplicité.“ Man muss sich auch bei Beethoven genau mit jeder Figur beschäftigen – aber am Ende muss man loslassen und es fließen lassen. Das ist das A und O.

Was raten Sie Studierenden, um zu dieser durch genaue Arbeit erreichten Einfachheit zu gelangen?

JJA: Ich empfehle oft, in eine Wiener Tanzschule zu gehen – wenn man erfahren hat, wie ein Walzer schwingen muss, kann man davon viel für das Spielen profitieren. Außerdem rate ich, viel zu singen, etwa in einem Chor, und auch Lieder zu studieren – auch Volkslieder, die bis zur Wiener Schule eine große Bedeutung haben.

Worauf wird beim Beethoven Wettbewerb besonders geachtet, was sollten Kandidat_innen unbedingt mitbringen?

JJA: Mit Show-Effekten und virtuosem Überschwang wird man bei uns wenig Erfolg haben. Es geht nicht um schneller, höher, weiter. Ich muss dazu auch sagen: Ich kenne etliche Wettbewerbe, habe ja auch Wettbewerbe gewonnen und bin in vielen Jurys. Jeder Wettbewerb ist eine Momentaufnahme. Es kann mir niemand erzählen, dass derjenige, der 1973 irgendwo den ersten Preis gewonnen hat, automatisch für immer der Beste ist. Dieses Treiben habe ich immer schon kritisch betrachtet, man muss aber genau hinsehen und unterscheiden. Es gibt Veranstaltungen – und auch die haben wohl ihre Berechtigung –, bei denen von vornherein auf Vermarktung geachtet wird und das den Jurymitgliedern auch so deutlich gemacht wird. Da geht es darum, jemanden zu finden, der für den Wettbewerb steht und eine große Karriere mit CDs und Medien usw. macht.

Auf der anderen Seite gibt es solche – und ich würde sagen, der Beethoven Wettbewerb ist einer davon –, die andere Ziele haben. Wir sehen unsere Veranstaltung eher als ein Festival und verstehen uns als ein Podium, auf dem sich die Teilnehmer_innen vorstellen und am Ende möglicherweise im Goldenen Saal des Musikvereins spielen können: Das ist ja ein Traum vieler Musiker_innen. Und wir konzentrieren uns nur auf das Klavierwerk Beethovens – es gibt keinen anderen Wettbewerb, der das auch so macht. Natürlich haben wir in Wien eine einmalige Tradition und eine besondere Verpflichtung, und wir sind sehr glücklich, dass die mdw sich immer zum Wettbewerb bekannt hat.

Wie sehen Sie heute Ihre eigenen Wettbewerbserfahrungen? Wie haben sich Ihre Erfolge – etwa 1997 beim Cliburn Wettbewerb – auf Ihre Laufbahn ausgewirkt?

JJA: Ich bin immer noch froh, diese Erfahrungen gemacht zu haben. Aber das erste Interview, das ich nach Cliburn gegeben habe, trug die Überschrift „Ich hasse Wettbewerbe“. Ich sehe es zwiespältig. Es ist generell fragwürdig, in der Musik Rankings zu machen, aber es gibt auch keine bessere Möglichkeit, wenigstens in einem solchen Rahmen. Den großen Vorteil eines Wettbewerbs – sage ich auch meinen Studierenden – sehe ich in der nötigen Vorbereitung, darin, dass man sich auch überlegt, wer man eigentlich künstlerisch ist und wie man sich am besten darstellen kann. Cliburn war für mich eine tolle Erfahrung, und ich bin bis heute mit etwa zehn Talenten von damals immer noch in freundschaftlichem Kontakt. Natürlich hat dieser Erfolg – oder auch der beim Busoni-Wettbewerb – sehr geholfen, weil er gewisse Türen geöffnet hat. Ich konnte mein Wiener Debüt im Konzerthaus geben. Wien ist einfach ein besonderes Pflaster. Anschließend habe ich durch diese Wettbewerbserfolge sehr viele Konzerte gegeben, das war toll, hat mich aber schließlich zur Überlegung gebracht, ob ich tatsächlich nur noch im Hotel leben möchte. Das war dann langfristig doch nicht meins, und ich bin sehr glücklich, an der mdw und im internationalen Rahmen zu unterrichten, während ich die Konzerte bewusst auswählen kann. Für mich habe ich damit eine gute Balance gefunden.

Veranstaltungstipp:
17. Internationaler Beethoven Klavierwettbewerb Wien
Finale: 24. Mai, 14.30 Uhr Musikverein Wien, Großer Saal
Tickets: musikverein.at

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