Das Exilarte Zentrum der mdw schafft mit seiner aktuellen Ausstellung einen Ort der Erinnerung für den vertriebenen Wiener Komponisten.
Erich Zeisl wurde 1905 in Wien geboren, bravourös bestand er im Alter von 15 Jahren die Aufnahmeprüfung an der damaligen Akademie für Musik und darstellende Kunst (heute mdw). Einen vollständigen Studiengang in Theorie, Komposition oder Klavier durchlief er nicht: Wie der Eintrag im Matrikelbuch bestätigt, beendete Zeisl die pianistische Ausbildung wegen Problemen mit den Händen, und die „Harmonielehre“ bei Richard Stöhr besuchte er nur im Studienjahr 1920/21. Anschließend unterrichtete Stöhr ihn privat.

Zeisls Debüt verlief fulminant: Mit der in romantischem Gestus gehaltenen Klaviertrio-Suite liegt ein repräsentatives Frühwerk vor, die „temperamentvolle, begabte Arbeit eines Sechzehnjährigen“1, wie in der Arbeiter-Zeitung anlässlich der Uraufführung im Wiener Konzerthaus 1928 zu lesen war. Als Liedkomponist verstand Zeisl es, die Singstimme und den Klavierpart in fein nuancierter Textausdeutung zueinander in Beziehung zu setzen und spätromantische Idiomatik um moderat moderne Stilelemente zu erweitern. Es war auch die Sphäre des Kunstlieds, die ihn für kurze Zeit zum „Traditionshüter“ Joseph Marx führte, ehe mit Hugo Kauder eine innovative und der Moderne zugewandte Persönlichkeit Impulse setzte.
1934 beschrieb Paul A. Pisk Zeisl als eine „der stärksten Persönlichkeiten der noch nicht dreißigjährigen Wiener Komponisten“2. Zeisls Werk umfasste zu jener Zeit Kunstlieder, Kammermusik- und Chorwerke, die frühe Oper Die Sünde, das mit „Jazzyness“ kokettierende Ballett Pierrot in der Flasche, die Kleine Messe und das im Entstehen begriffene Requiem Concertante. Mit dem sinnlich tanzenden Pierrot in der Flasche bespielte Zeisl die Welt der Groteske, mit dem zuvor entstandenen Liederzyklus Mondbilder (nach Christian Morgenstern) hatte er diese bereits durchwandert. Aktualität und Experimentierfreude vermitteln zwei spätere Chorwerke: Das ins Populäre reichende Afrika singt knüpft an den jazzinspirierten Pierrot in der Flasche an, während die suggestive Spruchkantate nach Sprüchen von Silesius, Salomon und Goethe neue Effekte in der Chormusik auslotet. In nachfolgenden Werken wie der Passacaglia und der Kleinen Symphonie nützt Zeisl die Vorzüge des großen Orchesters und erscheint traditioneller. Die Uraufführung des Singspiels Leonce und Lena im Schönbrunner Schlosstheater war für das Frühjahr 1938 geplant; der „Anschluss“ im März 1938 zerstörte diese Perspektive, Leonce und Lena wurde abgesetzt und Zeisl landete auf den schwarzen Listen der Nazis.

Unter dramatischen Umständen flüchtete Zeisl am 10. November 1938 von Wien nach Paris. Ein markanter Punkt in Zeisls Leben: Musiksprachlich betonte er von nun an seine jüdische Herkunft, initiiert durch die Komposition der Bühnenmusik zu Joseph Roths Roman Hiob. Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verließen die Zeisls Europa, die erste Zeit in New York sollte Sprungbrett für ein Leben in Hollywood sein. Hans Kafka, der bereits in Hollywood tätig war, arrangierte Zeisls Transfer vom Osten in den Westen. Die anfängliche Hollywood-Euphorie ging jedoch in Desillusionierung und Frustration über; nach nur 18 Monaten löste MGM den Vertrag.
Entrinnen konnte Zeisl der Hollywood-Misere allein durch die Komposition des Requiem Ebraico: „It is so refreshing to find a composer in Hollywood who can still divorce himself from the false glitter of film music and devote his spare time to writing music to a religious text.“3 So eine Reaktion auf die Uraufführung des Requiem Ebraico im April 1945 in Los Angeles. Mit der Nachricht von der Ermordung seines Vaters und seiner Stiefmutter, die 1942 von Theresienstadt in das Vernichtungslager Treblinka deportiert worden waren, änderte sich die Bedeutung des ursprünglichen Kompositionsauftrags zum 92. Psalm, den Zeisl vom Reformrabbiner Jacob Sonderling erhalten hatte. Zeisl widmete den Psalm als Requiem für das jüdische Volk seinem ermordeten „Vater und den unzähligen Opfern der jüdischen Tragödie in Europa“4.

Es war die Quintessenz von Zeisls künstlerischer Äußerung im Exil, die in der Heimat entwickelte Musiksprache mit jüdischer Idiomatik in Synthese zu setzen. Diese Sprache formte weitere Kompositionen wie die Songs for the Daughter of Jephtha, das Chorwerk From the Book of Psalms oder die auf biblische Themen gestützten Ballette Naboth’s Vineyard und Jacob and Rachel. Völlig unerwartet verstarb Erich Zeisl im Februar 1959 nach einer Vorlesung am Los Angeles City College. Seine Heimatstadt Wien sah er nie wieder. Noch im Mai 1955 hatte die Literatin Hilde Spiel einen Text für die Zeitung Neues Österreich verfasst: „Heute feiert der Wiener Musiker Erich Zeisl, fern der Heimat, seinen fünfzigsten Geburtstag […].“5 In einem kurzen Abriss blickte Spiel zurück in die Wiener Jahre des Komponisten, um dann pointiert über ihn als von „Wiens verlorene[m] Sohn in der Fremde“6 zu sprechen. Zeisls Nachlass lagerte bis vor Kurzem im Archiv der University of California, Los Angeles, und im Hause Zeisl-Schoenberg in Los Angeles (Zeisls Tochter Barbara heiratete Arnold Schönbergs Sohn Ronald, beide leben heute in jenem Haus in Brentwood, welches Arnold Schönberg 1936 mit seiner Familie bezogen hatte). 2024 wurde das Exilarte Zentrum der mdw von der Familie Zeisl-Schoenberg ausgewählt, künftig den gesamten Nachlass von Erich Zeisl zu beherbergen. Das Eintreffen dieses Nachlasses in Wien ist ein wunderbarer Anlass dafür, „Wiens verlorene[m] Sohn in der Fremde“ über die gleichnamige Ausstellung an der mdw einen Ort der Erinnerung zu setzen.
Erich Zeisl. Wiens verlorener Sohn in der Fremde ist noch bis 20. Dezember im Exilarte Zentrum der mdw zu sehen.
Literatur:
Karin Wagner, Fremd bin ich ausgezogen. Eric Zeisl Biografie, Czernin, 2005. www.czernin-verlag.com/buch/fremd-bin-ich-ausgezogen-
Karin Wagner (Hg.), … es grüsst Dich Erichisrael. Briefe von und an Eric Zeisl. Hilde Spiel, Richard Stöhr, Ernst Toch, Hans Kafka u. a., Czernin 2008. www.czernin-verlag.com/buch/es-grusst-dich-erichisrael
- Arbeiter-Zeitung, 7. 5. 1928.
- Paul A. Pisk, „Erich Zeisel“ [sic], in: Radio Wien, 26. 1. 1934, S. 2–3.
- The Tidings, 13. 4. 1945, Erich-Zeisl-Nachlass, Exilarte Zentrum, Wien.
- Vorwort zu Erich Zeisls Requiem Ebraico, Transcontinental Music Corporation 1946, TCL Nr. 266.
- Hilde Spiel, „Erich Zeisl, fünfzig Jahre“, in: Neues Österreich, 22. 5. 1955, S. 8.
- Ebd.
