Salvatore Sciarrino im Portrait


Der vielfach ausgezeichnete und renommierte Komponist Salvatore Sciarrino besuchte Mitte Mai 2015 für ein Seminar die mdw – die Gelegenheit für ein Gespräch über seinen Zugang zur Lehre.


Salvatore SciarrinoFoto: ©Luca Carrà / RaiTrade

"Ich beginne als Lehrer nie mit Regeln – ich beginne mit der Musik."

Worte, die für Salvatore Sciarrino eine große Bedeutung haben. Er selbst bezeichnet sich als "frei geboren" und darauf ist er besonders stolz, denn er hat nicht wie die meisten KomponistInnen mit einer musikalischen Ausbildung begonnen.

"Wenn man Komponist werden will, sollte man nicht zuerst die Regeln lernen und dann beginnen zu komponieren. Wir müssen frei beginnen – wie die Kinder, die das erste Mal zeichnen, mit ihrer eigenen Identität, Intuition und Freiheit." Die Kenntnis von alter und moderner Tradition sowie das Lesen der Werke sieht er dennoch als Grundvoraussetzung. "Es ist wichtig, um die Sprache der Musik zu beherrschen."


Der Autodidakt

Geboren 1947 in Palermo, beginnt Salvatore Sciarrino bereits mit zwölf Jahren zu komponieren – autodidakt. "Mit Verspätung", sagt er mit einem Augenzwinkern, hatte Mozart vergleichsweise schon im zarten Alter von fünf Jahren begonnen zu komponieren.

Die folgenden Jahre beschreibt er gerne als seine Lehrzeit – der Unterricht bei Turi Belfiore ist ihm in besonders schöner Erinnerung geblieben: "Es war eine besondere Verbindung zwischen uns. Er hatte sonst niemandem kostenlosen Privatunterricht gegeben – ich war der einzige. Für mich war er sehr großzügig, auch wenn sein Ruf eigentlich ein anderer war. Am Ende musste ich ihn leider trotzdem enttäuschen, denn ich wollte kein Diplom – das war sehr schwer für ihn."


Salvatore SciarrinoFoto: ©Luca Carrà / RaiTrade

Nach seiner Lehrzeit verbrachte Sciarrino einige Zeit in Berlin. Eine Zeit, die ihm stark in Erinnerung geblieben ist, denn es herrschte eine große Spannung – auch in kultureller Hinsicht. Durch die Besetzungszeit und die damit verbundenen Schrecken, entwickelte Sciarrino eine gewisse Achtung vor dem Leben, wie vor seinen Freundschaften. "Ohne Freundschaften können wir keine Kultur haben, denn Kultur beinhaltet nicht nur die offensichtlichen Aktivitäten, sie ist eine alltägliche Disziplin und das schließt auch einen alltäglichen Kontakt mit Menschen ein."


Musik vor Lehre und Tradition

1974 verschreibt sich Salvatore Sciarrino der Lehre – zuerst unterrichtet er an der Musikakademie in Mailand, anschließend in Perugia und Florenz. Sein Ansatz unterscheidet sich von den meisten: "Am Anfang muss man spielen, man muss die Musik in sich aufnehmen. Erst dann kommen die Regeln."

Denn Regeln und Traditionen sind laut Sciarrino nicht allzu schwer zu lernen. Viel wichtiger ist es, sich für die Studierenden Zeit zu nehmen und geduldig zu sein. "Die jungen Leute müssen ihren eigenen Weg finden und nicht unseren gehen."

Die erste wichtige Lektion ist laut dem erfahrenen Komponisten Musik frei zu hören – keine bestimmte, sondern jede Art von Musik. Ohne Vorurteile und ohne zu verurteilen. "Wir legen oft fest, was gut ist und was nicht. Das würde ich aber nicht als freies Hören bezeichnen. Wir müssen die Musik zuerst akzeptieren – so wie sie ist und dann entscheiden, ob uns diese Art entspricht oder nicht."


Unvoreingenommenes Hören & eigene Analyse

Ein weiterer wichtiger Schritt ist für den Autodidakt die eigene Analyse. "Sonst sieht man nur wie die Komposition eines anderen gebaut ist, und das ist nicht der Schlüssel. Der muss ein individueller sein. Ich kann nur in die Richtung zeigen, gehen muss man dann selbst." Eine der schönsten und wichtigsten Perspektive von Kultur ist für Salvatore Sciarrino das Entdecken von Dingen, die wir noch nicht kennen. Und das möchte er gemeinsam mit seinen Studierenden erreichen.

Ebendiese Chance auf eine gemeinsame Entdeckungsreise haben unsere Studierenden Mitte Mai. Salvatore Sciarrino hält für unsere jungen KomponistInnen ein eigenes Seminar, und das ist mit Sicherheit eine besondere Erfahrung – denn er begegnet seinen Studierenden auf Augenhöhe, ist bereit Gedanken auszutauschen – ohne wie er es nennt "Waffen im Mund oder Kopf". Denn das ist dem herausragenden Lehrenden besonders wichtig: "Wir wollen immer die anderen zu unserer Erfahrung bringen, aber jeder Mensch hat seine eigenen. Es gibt keine universellen Gedanken, alles ist relativ und individuell."


Text: Susanne Gradl

Das Portrait ist in der Kunsträume Ausgabe #2-2015 erschienen.