Dass das epische Theater ­– verstanden als Teil der ersten künstlerischen Avantgarde – hinter seine emanzipatorischen Ambitionen zurückfällt, ist oft angemerkt worden. Die programmatische Kollektivität der Piscator-Bühne etwa endet in Piscators Alleinherrschaft und mit Blick auf Brecht, sind es nicht nur die in den ‘klassischen’ epischen Stücken blind vorausgesetzten Geschlechterverhältnisse, sondern vor allem die Ausnutzung (Ausbeutung?), der an der künstlerischen Produktion beteiligten Frauen, die Gegenstand vieler Artikel und Monografien geworden ist. Dabei bleibt die Kritik eine moralische oder juristische, sie lässt sich kaum auf ein Verständnis künstlerischer Arbeitsweisen und damit auch nicht auf eine grundsätzliche Infragestellung individueller Autorschaft ein und reproduziert allzu oft eine herausgehobene Stellung Brechts. Welche Möglichkeiten für eine Kritik der Geschlechterverhältnisse bietet dagegen eine Untersuchung künstlerischer Arbeit, die sowohl kategorial verfährt (sich politisch-ökonomisch ausrichtet) als auch die konkrete Arbeitspraxis des epischen Theaters in den Blick nimmt? Mein Vortrag sucht darauf Antworten und nimmt engen Bezug auf mein jüngst im Verlag Theater der Zeit erschienenes Buch Tropen des Kollektiven. Horizonte der Emanzipation im Epischen Theater (November 2024).

Matthias Rothe ist Professor in German Studies und Philosophie an der University of Minnesota. Er studierte in Rostock und Hamburg und war bis 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Kulturwissenschaft an der Viadrina Universität. Er hat unter anderem zur neueren deutschen Literatur, zum Brechtschen Theater und zum Marxismus veröffentlicht, jüngst etwa: “Economic Psychos. Volker Brauns Das ungezwungene Leben Kasts nach Bret Easton Ellis”, in: Text und Kritik 55 2023 oder “Hidden Stockpiles of Words and Images – An Interview with Thomas Heise” (bei Bloomsbury 2023).