22.05.2023, 10-12 Uhr

 

Weina Zhao ist in Peking geboren und in Wien aufgewachsen, China und die Vergangenheit ihrer Familie übten seit jeher eine große Faszination aus, zumal darin die gegensätzlichen Lebensrealitäten des 20. Jahrhunderts offenbar werden: Mütterlicherseits die Filmemacher*innen im glamourösen Shanghai der 1930er Jahre, auf der väterlichen Seite arme Bäuer*innen im Norden. In den Biografien der beiden Familien verdichtet sich die Entwicklung Chinas von Maos langem Marsch über die Tragödien der Kulturrevolution bis in die Moderne.

Der Film “Weiyena” gilt als Zeugnis dieses Kapitels der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, gilt als Annäherung an Weinas Familie. Bald stößt sie auf tiefgehende Erinnerungen – von der japanischen Besatzung hin zu jahrelanger Gefangenschaft während der Kulturrevolution. (Vgl. https://weiyena-film.com/de)

Nach Sichtung des Films wurden bei dem dritten Kolloquium sämtliche Themenfelder angeschnitten, die hier ­ meist in Form von Gesprächsauszügen ­ umrissen werden (Zitate wenn nicht anders angegeben von Weina Zhao).

 

Diversität im Film, unterschiedliche Klassenzugehörigkeit

Da Weinas Familie mütterlicher- und väterlicherseits unterschiedlichen politischen Klassen zugehörig waren, werfen ihre Biografien ungleiche Perspektiven auf die Geschichte Chinas und der Volksrepublik auf. Im Gespräch erzählte die Filmemacherin, dass ihr das Projekt eine Gelegenheit bot, „all diese Fragen zu stellen, die ich immer gehabt habe, und dann in die Tiefe zu gehen und diese Erinnerungen aufzunehmen.“

Die Idee zum Projekt entstand gemeinsam mit Judith Benedikt, mit der Weina durch ihre Regieassistenz bei „China Reverse“ (Ö 2014) bereits zusammenarbeitete (vgl. auch das Gespräch von Juli 2018 unter https://filminstitut.at/interview/weina-zhao-und-judith-benedikt-weiyena-ein-heimatfilm).

Der ursprüngliche Gedanke lag darin, Familiengeschichte im Angesicht der Kulturrevolution zu erzählen. Der Arbeitstitel des Films war zunächst „A Tale Of Two Families“.

 

Situationsbedingtes Drehen

Im Gespräch berichtete Weina vom Verlauf des Projekts: Anfang 2014 fanden insgesamt 5 Drehtage statt, nach einer Projektentwicklungsförderung des BMKÖS und eines Grenzgänger-Stipendiums der Robert Bosch Stiftung konnten im Sommer 2016 und im Winter 2017 in China Recherche- und Materialsicherungsdrehs vorgenommen werden. 2018 bekam das Projekt schließlich eine ÖFI Förderung und konnte damit fertiggestellt werden.

Am Ende war das Team „überrascht, dass es ziemlich das geworden ist“, was sie in der Konzeptionsphase 2013 umsetzen wollten, trotz des Einsatzes von acht unterschiedlichen Kameras.. Das Material generierte sich in einer Weise, so dass es beinahe chronologisch geschnitten werden konnte.

 

Schwierige Themen ansprechen

„Ich habe mir am Anfang sehr schwergetan mit dem Stellen von schwierigen Fragen. Der Ansatz war, dass ich über ein Alltagsthema, über Smalltalk, an Erinnerungen herangehen wollte. (…) Was ich vorhatte war, zuerst die Großeltern zu interviewen, also alle Gespräche mit den älteren Menschen zuerst zu führen, bevor ich dann zu meinen Eltern komme. Einerseits aus praktischen Gründen, weil sie ja älter waren, aber andererseits auch aus einer gewissen Angst heraus, weil mir die Eltern näher stehen und es noch schwieriger war, diese Fragen zu stellen. (…) Bei meiner Mutter war schon sehr bald das Bedürfnis da, sich mitzuteilen. Diese eine Szene im Film, wo sie über die Kulturrevolution erzählt und zu weinen beginnt, das war bei dem Recherchedreh 2017, wo wir eigentlich nur Material für einen Teaser gesammelt haben (…). Und dann hat sie angefangen zu erzählen und zu erzählen. Und genau dann ist das entstanden, vieles auch ungeplant.“

 

Umgang mit Geschichte, was wird erzählt

„Das Verdrängen von Geschichte und diesen schmerzhaften Dingen, das war ziemlich lange ein Handlungsstrang im Film, den wir leider zum Schluss dann verloren haben. Es gibt Szenen, wo wir im Haus von meinem Urgroßvater sind. Wir gehen durch dieses Haus mit meiner Großtante und sie erzählt, wie sie damals in diesem Haus gelebt hat, gemeinsam mit ihrem Vater. Wie die Rotgardisten hereingekommen sind und die Bücher verbrannt haben und das ganze Haus auseinandergenommen haben, mehr oder weniger. Sie erzählt diese schrecklichen Dinge. Meine Mama lenkte immer wieder ab, sieht dann diese wunderschönen spanischen Metallfenster oder diesen Parkettboden und so. Das fand ich total spannend, dieses sich total dafür interessieren, was da passiert ist, dieses Verlangen darüber zu reden. Aber trotzdem immer dieses Ablenken. (…) Ich nehme, dass sie gerne über die Vergangenheit redet, aber halt die Oberfläche herauspickt und ich gehe damit rein und versuche da in die Tiefe zu gehen.“

An dieser Stelle hob Weina hervor, dass war Humor ein wichtiges Thema war, nämlich indem dadurch auch die Leichtigkeit der Menschen im Film behandelt wird, trotz all den schrecklichen Erfahrungen. Im Schnitt fiel die bewusste Entscheidung, gewisse Erzählungen (Erzählstränge) zu reduzieren, da es zu viel Zeit in Anspruch genommen hätte, all diese (Alltags-)Geschichten nochmal tiefer zu etablieren.

 

Voiceover und Text

Von Beginn an war ein Off-Text vorgesehen, so die Filmemacherin, jedoch in anderer Weise. Ursprünglich gab es poetischere, abstraktere Versionen, aber als Voraussetzung galt, dass der historische Rahmen erklärt werden musste.

Schließlich war für das Team ein Zugang wichtig, der sowohl die eigene Identität als diasporische Filmschaffende thematisiert und eine Sichtbarkeit für diasporische Geschichte(n) schafft (im Sinne von Kulturvermittelnden). Die von der Filmproduktionsfirma geforderte explizite Auseinandersetzung mit der eigenen Identität war durchaus herausfordernd, wie Weina schilderte. Sie musste auf ihre verschiedenen Personas, verschiedene Ichs, aus den letzten 30 Jahren zurückgreifen: „Also es war nicht das aktuelle Ich von mir, die all diese Sachen sagt, sondern ein Ich, das versucht, Dinge einem weißen Publikum, sage ich jetzt mal, verständlich zu machen und gleichzeitig mich selbst nicht so komplett zu verraten dabei.“

„Ich finde das total spannend, was du gesagt hast über die Personas oder das Ich, das in diesem Off Kommentar spricht, das ja wirklich ein konstruiert oder kondensiert ist oder zusammengesetzt ist. Weil wir im Nachdenken über Autosoziobiografien oft auf diese Frage gestoßen sind: Was ist das eigentlich für ein Ich das da spricht? Oder gibt es auch Wege, nicht dezidiert „Ich“ zu sagen, weil es ja darum geht, Geschichten jenseits des Ichs zu erzählen. Ich finde das total schön, wie du deinen Weg schilderst, dass als ein zusammengesetztes Ich aus verschiedenen Zeitschichten und verschiedenen Personas zu sehen, die da irgendwie kondensiert sind in diesem Text.“ (Elena Meilicke)

 

Zur Zusammenarbeit mit Judith Benedikt, gemeinsame Regie, Kollaboration (Ausschnitt aus dem weiteren Gespräch)

Elena: Welchen Effekt hatte es, dass du mit jemand anders zusammengearbeitet hast, die natürlich eine Außenperspektive auf deine Geschichte hatte? Wie war das und was hat es bewirkt?

Weina: Nachdem Judith und ich uns schon davor kannten, wir uns sehr gut verstanden und gut zusammengearbeitet haben, war es von Anfang an super, diese Außenperspektive zu haben, die mich immer wieder in die Richtung geschickt hat, mich diesen schwierigen Fragen zu stellen. Zum Beispiel das Thema transgeneratives Trauma, das kam von Judith[1]. (…) Ich habe meinen Opa interviewt über seine Zeit im Arbeitslager und dann ist meine Mutter zum zweiten Teil des Gesprächs dazugekommen und sie hat schon wieder nur über so lustige Sachen geredet. Es ging um diesen Aufseher von ihm und wie nett der war. (…) Mit diesem Wissen, was ich davor alles gehört habe, war das so Oh mein Gott. Es fühlt sich an, wie wenn man kleinen Kindern ein Märchen erzählt und plötzlich kommt der böse Wolf oder was auch immer und das Kind fängt an Angst zu kriegen. Und dann dreht die Mutter wieder um und sagt, hey nein, der Wolf ist eh nicht böse, der ist eh lustig. So hat sich das angefühlt. Und in dem Moment, als ich das realisiert habe, war das so: okay, check, da ist irgendwie mehr. Also ich hab das Verdrängungsding auch. (…) Wir (Judith und Weina, Anm.) haben nach jedem Dreh immer länger geredet und haben alles, was da gesprochen wurde nochmals (…) rekapituliert. Und ja, es war super, diese Außenperspektive zu haben.

Barbara: Ich darf mich da gleich anschließen, (…) nämlich in Hinsicht auf die Technik des Filmens, wo du sagst, das Filmen hat dir erlaubt, Fragen zu stellen, die du sonst nicht gestellt hast. Da ist für mich dieser ganze Aspekt angeschlossen, wie jemand erinnert und wie in einer Familie Erinnerung erzählt wird. Wie Erinnerung vermittelt wird. (…) Mich würde die Technik des Filmens interessieren, weil wir künstlerische Forschung machen und uns oft fragen: Wie kann ich eine künstlerische Technik benutzen, um zu Erkenntnis zu kommen, wo ich eigentlich sonst nicht hinkommen würde oder auch nicht den Raum dafür haben würde?

Weina: Die Kamera hat meine Position verändert in der Familie. (…) Vor allem im chinesischen Kontext fand ich es immer hilfreich, mit Teams zu drehen. (…) Also genau da hat dieses weiß gelesene Team (das kein Chinesisch versteht, Anm.) geholfen: einerseits für das (offene Sprechen, Anm.), aber andererseits war es für diesen innerfamiliären Kontext schon so, dass es die Art, wie man normalerweise in der Familie miteinander redet, miteinander umgeht, verändert.

Nina: Noch eine technische Frage: war das Voiceover, in dem du darüber reflektierst, dass du einen Film machst, schon im ursprünglichen Konzept vorgesehen?

Weina: Dass das Filmemachen Teil des Films wird, war von Anfang an im Konzept drinnen. Dadurch, dass meine Familie mütterlicherseits aus dieser Filmfamilie kommt, hatten wir tatsächlich das Thema, wie Geschichte erzählt wird ­ also dass Geschichte einfach immer subjektiv ist (…). Der Umgang im Film damit, das war von Anfang an Teil des Konzepts und auch, dass die vierte Wand aufgemacht wird. Wir wollten von Anfang an, dass das spürbar ist und auch das Publikum mitbekommt: wir erzählen jetzt auch nur eine Version der Geschichte.

 

Wieviel Platz nimmt Wien in diesem Film ein?

Wien hätte eigentlich keine Rolle spielen sollen, aber die Produktionsfirma wollte das migrantische Thema einbringen:

„Nachdem wir sozusagen diese Aufgabe bekommen haben, die Migrationsgeschichte meiner Eltern zu erzählen, sind es diese (im Film vorkommenden touristischen, von den Eltern gemochten, Anm.) Orte, weil meine Eltern haben immer noch dieses sehr schöne positive Bild. (…) Aber es gibt diesen einen Satz von meiner Mutter zum Schluss im Film: dass, wie sie nach Wien gekommen ist, sie sich endlich sicher gefühlt hat und die Ängste weg waren. Das war ein riesiger Aha-Moment, so, okay, jetzt, jetzt verstehe ich die Migration, also wirklich, sozusagen. Es gibt sicher noch andere Gründe, aber dass es schon eine Flucht war vor dem, was passiert ist mit China und dass sie sich hier wirklich wohlfühlen und sicher fühlen. (…)

Mir ist einmal aufgefallen im Gespräch mit anderen diasporischen Menschen, dass es sehr oft ein Thema ist, dass man selbst als Kind (von Menschen, die eingewandert sind, ausgewandert sind) überhaupt nicht genau weiß, warum die Eltern oder Großeltern migriert sind. Ich glaube, in dieser persönlichen Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte wird ganz selten in allen Details gefragt ­ vielleicht auch als Schutz der Familie, als Selbstschutz. Weil man immer ahnt, dass Migrationserfahrungen nie schmerzfrei laufen, sodass man da einfach nicht nachfragt.“

 

Siehe hierzu:
Veranstaltung Ver_Üben. Diversität als diskriminierungskritische Praxis in Kunst, Kultur und Bildung der Stabstelle Gleichstellung, Gender Studies und Diversität (GGD): https://www.mdw.ac.at/ggd/?PageId=4318

Zu Familiendynamiken die durch Migration und Flucht entstehen und durch Krieg:
HAO ARE YOU (D 2023, Regie: Dieu Hao Do) https://ffmop.de/film_detail/movie-6396fb7074604

 

Diasporische Identität, China sind Themen, die Weina sehr interessieren, in Zukunft möchte sie in der Form erzählen, wie sie es möchte: „Man muss nicht alles erklären, um eine Geschichte verständlich zu machen, mir ist es wichtig Emotionen und Stimmungen zu vermitteln, das kann auch auf abstrakte Weise passieren, ohne historische Details schildern zu müssen. Wenn das Interesse dadurch für ein Thema geweckt wurde, kann man sich danach auch selbst weiter informieren.“

 

Zum Begriff der Diaspora, Migration

„Diaspora sind Menschen, die zb. asiatisch gelesen werden, unabhängig davon, ob sie wirklich migriert sind oder ob ihre Vorfahren migriert sind. Also das beinhaltet dann auch Menschen, die adoptiert wurden, zum Beispiel, die genau die gleichen Erfahrungen hier machen, in Bezug auf wie sie wahrgenommen werden, aber einfach keine migrantischen Erfahrungen gemacht haben. Der Begriff Diaspora erzeugt auch ein Gefühl von größerer Gemeinschaft, wohingegen der Begriff Migrant:in mittlerweile so aufgeladen ist von diesem politischen Diskurs, und „Migrationshintergrund“ sehr oft negativ behaftet ist.“

 

Zum Projekt Gewächshaus

Die Absicht besteht im Sichtbarmachen und Fördern von Filmemacher:innen of Colour, dem Aufbau einer Community, die sich vernetzt und einen Raum schafft, an dem gemeinsames Wachsen möglich ist im Sinne eines Gewächshaus (siehe dazu auch https://www.derstandard.at/story/2000144821989/wedo-anlaufstelle-fuer-uebergriffe-in-der-filmbranche-stark-nachgefragt).

 

[1] „Teil des transgenerationalen Traumas sei und mir gar nicht bewusst war, wie viel hinter dem Gerede geschwiegen wurde und wie viele Fragen unbeantwortet blieben. Mit dieser Erkenntnis wurde ein zweiter Blick umso notwendiger. Alleine diesen Film zu machen, wäre auch emotional schwierig gewesen.“ (Vgl. Im Gespräch mit…)

 

Biografie

Geboren 1986 in Peking, aufgewachsen in Wien. Nach dem Masterstudium der Sinologie, Mitarbeit bei diversen Dokumentarfilmen (Regie- und Produktionsassistenz, Aufnahmeleitung, Übersetzung). Seit 2012 Regisseurin und Drehbuchautorin bei eigenen Film- und Hörfunkprojekten. 2017 Weiterbildung als Drehbuchautorin im Kurs „Storytelling – Grundlagen der Stoff- und Drehbuchentwicklung für Kino & TV“ unter Arno Aschauer.

Seit 2020 freie Autorin (u.a. bei Augustin, Literarische Diverse, Babbel Magazin, yì magazìn, Migrazine) und Produzentin (Electric Shadows Laufbilderzeugungsanstalt). Mitbegründerin des Perilla Zines (eine Publikation für die asiatische Diaspora im deutschsprachigen Raum) und des Vereins Gewächshaus, einer Initiative zur Förderung von BIPOCs in der deutschsprachigen Filmbranche.

Kolloquien im Rahmen von Confronting Realities

Im Interesse einer umfassenden, interdisziplinären, theoretischen Kontextualisierung wird die künstlerische Forschung zu autosoziobiographischen und filmischen Formen und Techniken durch künstlerisch-wissenschaftliche Kolloquien ergänzt, zu dem Gäste aus dem künstlerischen Bereich (Film, darstellende Kunst, Literatur), aber auch aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen wie Soziologie, Psychologie, Ökonomie, Geschichte, Philosophie, Theologie, Film- und Medienwissenschaft, Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft usw. eingeladen werden, um ihre Arbeiten und Forschungen vorzustellen und an einer Diskussionen teilnehmen können. Von besonderem Interesse sind Wissenschaftler:innen, die zu verwandten Themen geforscht haben, sowie Künstler:innen und Filmemacher:innen die mit neuen Formen des auto(sozio)biographischen Erzählens experimentieren. Vorgesehen sind Kurzvorträge mit anschließenden Diskussionsrunden. Ziel ist es, ein interdisziplinäres Diskussionsforum zu schaffen, das den Teilnehmern der LAFA die Möglichkeit zu einem intensiven Austausch und zur Vernetzung mit Künstler:innen und Wissenschaftler:innen aus dem In- und Ausland bietet und ihnen die Möglichkeit gibt, ihre
Arbeit mit der aktuellen künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung zum Thema “Soziale Klasse” etc. zu verbinden.