„Wir alle müssen uns täglich und ständig bemühen, die Menschenrechte zu schützen und immer wieder dafür kämpfen, dass sie umgesetzt werden.“

Auszug aus dem Vortrag „Rechtfertigt jede Krise eine Krise der Menschenrechte? Krisenbedingte Überlegungen“ der Diskursforscherin Ruth Wodak an der mdw anlässlich des Jahrestags der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (10. 12. 2020).1
Andrea Glauser & Ruth Wodak © Stephan Polzer

Ruth Wodak leistet mit ihren Untersuchungen zu Sprache, Diskurs, Macht und Gesellschaft seit vielen Jahren einen zentralen Beitrag zum besseren Verständnis der sozialen und politischen Verhältnisse, in denen wir leben. Sie war wesentlich an der Ausarbeitung und Etablierung der kritischen Diskursforschung beteiligt und entwickelte zusammen mit Kolleg_innen den diskurshistorischen Ansatz. In ihrem Vortrag analysierte Ruth Wodak den Zusammenhang zwischen Covid-Krise, Maßnahmen und sich daraus ergebenden Einschränkungen der Menschenrechte anhand der Krisenkommunikation verschiedener Regierungen. Die Ausführungen bauen auf einer Studie auf, die Datenkorpora im Zeitraum von März 2020 bis Juni 2020 untersucht. Ausgangspunkt waren zwei zentrale Fragestellungen: „Einerseits, wie erreichen pluralistische demokratische Regierungen Zustimmung zu den einschränkenden Maßnahmen? (…) Und andererseits, wie werden offensichtliche Verletzungen der Menschenrechte, die solche Einschränkungen mit sich führen, diskursiv legitimiert?“

(…) In meiner Studie (…) habe ich Reden und Presseaussendungen auf Regierungsebene genau analysiert – und zwar anhand österreichischer, deutscher, französischer, schwedischer, neuseeländischer, ungarischer, italienischer, polnischer und griechischer Korpora. Herauskristallisiert haben sich bei dieser abduktiven und komparativen Analyse, das heißt einer Analyse, die zwischen Hypothesen und Datenanalyse oszilliert, vier Rhetoriken:

Erstens eine christlich-religiöse Rhetorik, d. h., die diskursive Konstruktion eines Retters, einer Retterin, und, wie der Linguist George Lakoff2 in seiner Forschung über amerikanische Wahlkämpfe schlüssig beweist, eines strikten Vaters der Nation, die als Familie begriffen wird. Zweitens eine dialogisch-sachliche Rhetorik, durch die die Maßnahmen klar und nachvollziehbar erklärt werden und in der eher die diskursive Konstruktion einer sorgenden Mutter oder eines sorgenden Vaters im Vordergrund steht. Drittens: Eine Kampfrhetorik. Diese Pandemie, diese Krise wird als ein national geführter Krieg gegen das Virus unter Führung eines Feldherrn verstanden. Und schließlich begegnen wir, viertens, einer Kosten-Nutzen-Rhetorik, d. h. ein gewisses Ignorieren der Todesgefahr, ein Versuch, den Alltag weiterzuführen aufgrund eines traditionell vorhandenen, großen Vertrauens zwischen Regierung und den angesprochenen Bürger_innen ebendieser Länder3.

Wenn Sie nun Beispiele aus Österreich und Deutschland betrachten, in Bezug auf die verwendeten Verben und Adjektiva wie auch die prioritären semantischen Felder, so sagte Sebastian Kurz am 6. April: „Die Osterwoche wird eine entscheidende Woche für uns sein. Es wird eine Woche sein, die ausschlaggebend dafür ist, ob die Wiederauferstehung nach Ostern, die wir uns alle wünschen, auch so stattfinden kann.“ (ZIB Spezial, 6. 4. 2020) Die christlichen Feiertage haben – wie man sieht – eine große Rolle gespielt; es wurde argumentiert, dass man dieses Versprechen mit Garantie abgeben könne, und zweitens, dass es selbst dann, wenn man sehr krank wäre oder sogar stürbe, eine Wiederauferstehung gäbe. Die religiöse Metaphorik wurde stark bemüht. Insgesamt handelt es sich vor allem um Wertelegitimierung und um Mythopoesis, nämlich um ein bestimmtes religiöses Narrativ, das den Frame für die Krisenkommunikation herstellt.

Angela Merkel ist auf den Dialog mit den Zuhörenden fokussiert, nicht auf eine Top-down-Kommunikation. Sie hält sich zurück und absolviert nur wenige Auftritte. Expert_innen spielen daher eine umso wichtigere Rolle. Und so betont sie bei einer ihrer wenigen Reden (22. 3. 2020), es sei ihr „wichtig, [s]ich direkt an all diejenigen zu wenden“ – sie sucht also die Beziehungsebene –, „die sich jetzt an die notwendigen Verhaltensregeln halten. […] Wir alle“ – inklusiv, sie schließt sich in die angesprochene Gruppe mit ein –, „müssen darauf [auf viele Gewohnheiten] eine Zeitlang verzichten. Dass sich so viele an diese Verhaltensregeln halten, berührt mich sehr.“ Dies ist ein klares Indiz für Emotionalität. „So zeigen wir Fürsorge für ältere und vorerkrankte Menschen.“

Hier erkennen wir eine moralisierende sowie eine rationalisierende Legitimation. Ein Satz Angela Merkels, in dem sie explizit und mit Bedauern die massiven Einschränkungen anspricht, ist uns allen geläufig. Nämlich: „Die Einschränkungen persönlicher Freiheitsrechte sind eine demokratische Zumutung.“ (23. 4. 2020). Und sie erwähnt auch, dies sei für sie „eine der schwierigsten Entscheidungen während ihres ganzen politischen Lebens“ gewesen. Hier handelt es sich um Legitimierung durch Autorität.

Ulrike Sych © Stephan Polzer

Mein Resümee: Zunächst möchte ich die Herausforderungen und Gefahren ansprechen, die aufgrund der Verschränkung von Menschenrechten, Krisen, und Einschränkungen und den damit verbundenen Widersprüchen entstehen. Erstens erleben wir starke Nationalisierungstendenzen. Alle Länder befanden sich in einem Quasi-Wettbewerb nach dem Motto: „Wer ist der Beste?“ Zweitens entstanden massive Verschwörungstheorien, Sündenböcke wurden kreiert, die die Komplexität reduzieren sollen. Einfache, stark auf Mythopoesis hin getrimmte Lösungen werden gesucht. Vulnerable Gruppen könnten ausgegrenzt werden, ein Generationenkonflikt ist möglich. Und schließlich werden offensichtlich autoritäre Tendenzen gefördert, auch solche, die die Pressefreiheit infrage stellen, wie das beispielsweise in Ungarn während des Lockdowns der Fall war. Das heißt, wir erleben potenziell eine Normalisierung von Einschränkungen, und dies bezeichne ich als die Krise der Menschenrechte4. Denn: Dass Einschränkungen notwendig sind, um Leben und Gesundheit zu retten, und alles dafür zu unternehmen, ist klar. Aber die Einschränkungen dürfen nicht zur „neuen Normalität“, wie sie oft angesprochen wird, werden.

Was heißt all dies für die Wissenschaft? Wissenschaft ist diskursiv, braucht Zeit, braucht Neugier, natürlich auch Geld; sie braucht Öffentlichkeit und Diskussion. Wir müssen die unterschiedlichen Krisenkommunikationsvarianten auf ihre Wirkung hin untersuchen und daraus für die Zukunft lernen: Was funktioniert am besten, wenn man solche Einschränkungen vermitteln muss? Wie kann man die Maßnahmen in ihrer Verhältnismäßigkeit erklären? Wie erklärt man überhaupt am besten, offen und transparent, dialogorientiert, was passiert? Wir müssen die Verschwörungstheorien und die Desinformation dekonstruieren und all dem genaue Information entgegensetzen. Das ist wirklich wichtig. Wie macht man das am besten? Wir dürfen nicht dem Nationalismus verfallen und müssen gerade als Wissenschaftler_innen grenzüberschreitend arbeiten. Für mich bedeutet das insgesamt reflektierte Entschleunigung, die kreatives mittel- und langfristiges Entwerfen unterschiedlicher Szenarien ermöglicht, partizipativ in Diskussion und Dialog.

Seit 2018 gestaltet die mdw auf Initiative der Rektorin Ulrike Sych anlässlich des Jahrestags der Deklaration der Menschenrechte eine Abendveranstaltung zu einer spezifischen Themenstellung. Als internationale Universität mit Studierenden aus über 70 Nationen ist es erklärtes Ziel der mdw, Transkulturalität und eine gelebte Kultur der Gleichbehandlung im Alltag zu verankern. Demokratie, die Freiheit der Kunst, der Wissenschaft und der Lehre sind als leitende Grundsätze in das mdw-Leitbild eingeschrieben.

2018 diskutierten Marlene Streeruwitz, Andrea Kuhn, Golnar Shahyar, Beate Winkler mit Moderatorin Corinna Milborn zum Thema „Würde – Freiheit – Gerechtigkeit: Menschenrechte im kulturellen Kontext“. 2019 sprachen Belinda Kazeem-Kamiński, Marko Kölbl, Anna Sporrer und Shzr Ee Tan (Moderation: Rosa Reitsamer, mdw) über „Studieren ohne Diskriminierung: Strategien gegen Rassismen, Sexismen & Ausgrenzung an Kunstuniversitäten“. Alle bisherigen Veranstaltungen der Reihe sind in der mdwMediathek on demand abrufbar.

  1. Der ganze Vortrag ist online abrufbar unter mediathek.mdw.ac.at/menschenrechte2020, eingeleitet und moderiert durch Andrea Glauser (IKM). Transkription durch Heidi Wilm, bearbeitet durch Ruth Wodak.
  2. Lakoff, G. (2004). Don’t Think of an Elephant: Know Your Values and Frame the Debate. White River Junction, VT: Chelsea Green.
  3. Wodak, R. (2020). Krisenkommunikation in „Corona-Zeiten“. In T. Schmidinger & J. Weidenholzer (Hg.), Virenregime (330–341). Wien: Bahoe; Wodak, R. (2021). Crisis Communication and Crisis Management during COVID. Global Discourse [im Erscheinen].
  4. Vgl. Habermas, J. & Günther, K. (2020, 6. Mai). Kein Grundrecht gilt grenzenlos. Zeit Online. https://www.zeit.de/2020/20/grundrechte-lebensschutz-freiheit-juergen-habermas-klaus-guenther; Human Rights Watch (2020a, 19. März). Human Rights Dimensions of COVID-19 Response. https://www.hrw.org/news/2020/03/19/human-rights-dimensions-covid-19-response
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