Im Vorfeld der 30. Internationalen Sommerakademie der mdw sollte die isaScience 2020 bereits zum achten Mal in der Semmering-Region stattfinden. Sie lädt Forschende, Kunstschaffende und Aktivist_innen aller akademischen Levels und aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen mit Bezug auf Musik und darstellende Kunst ein, am Diskurs zum diesjährigen thematischen isa-Schwerpunkt „Heroes?!“ teilzunehmen. Angesichts der weltweiten Covid-19-Krise stand zu Redaktionsschluss allerdings noch nicht fest, ob und in welcher alternativen Form die Konferenz im August 2020 stattfinden wird. Informationen dazu finden Sie auf der Konferenz-Website.

Die über einen internationalen Call for Papers organisierte interdisziplinäre Konferenz isaScience befasst sich mit kritischen Perspektiven auf „Heroes, Canons, Cults“. Durch alle Musikstile hindurch und in unterschiedlichen kulturellen Kontexten tragen Held_innen, Kulte und Kanons zur Schaffung normativer, ausgrenzender und sogar gewalttätiger Rahmenbedingungen bei und diktieren, was für Ohren und Augen angemessen und wertvoll zu sein hat. Ebenso bestimmen Heroisierung, Kultifizierung und Kanonisierung, was ungehört und ungesehen bleibt bzw. als unwürdig oder minderwertig herabgesetzt wird.

Solche Prozesse reichen zeitlich weit zurück und sind eng mit der Entwicklung der westlichen Kunstmusik und der Verehrung bestimmter Komponisten als „große Künstler“ sowie der Würdigung ihrer Werke als „Meisterwerke“ verbunden. Diese Praktiken, die für die Produktion künstlerischer Werte eingesetzt werden, sind von der Ideologie des autonomen Künstlers und einer seit dem 19. Jahrhundert zunehmenden Musealisierung des Konzertrepertoires geprägt. Darüber hinaus unterstützten diese Praktiken die Herausbildung einer harten Grenze zwischen „Hochkultur“ und „niederen“ kulturellen Formen. Die „Hochkultur“ wurde zum Standard für die Bewertung populärer und traditioneller Musikformen. Diese Entwicklungen sind eng mit eurozentrischen, imperialistischen und elitären Institutionen wie Opernhäusern, Konzerthäusern und Musikkonservatorien verbunden, die klassen- und geschlechtsspezifische sowie rassifizierende Formen der Produktion, der Aufführung, des Konsums und der Aneignung von Musik befördern.

Mittlerweile spielen das Internet und die sozialen Medien eine bedeutende Rolle bei der Definition von Ruhm, der Erschaffung von Held_innen und bei Kanonisierungsprozessen in verschiedenen Genres, unter anderem in den Bereichen Popularmusik, klassische Musik und traditionelle Musik. Die Entwicklung elektronischer Aufnahmetechniken ermöglichte beispielsweise die Verfügbarkeit von traditionellen Musikstücken in lokalen Sprachen und Dialekten und damit koloniale Ethnografien indigener Musiken. Umgekehrt bot diese technologische Innovation der kolonialisierten Bevölkerung die Möglichkeit, eigene Musikkanons zu definieren und ein Identitätsgefühl zu stärken, das für den antikolonialen Aktionismus notwendig war. In jüngerer Zeit werden Internettechnologien zunehmend dazu genutzt, alternative Musikgeschichten zu dokumentieren und zu verbreiten sowie um den Mainstream-Musikkanon herauszufordern, der traditionell People of Color, nicht-westliche Interpret_innen, Musikerinnen und queere Menschen an den Rand gedrängt hat.

Der Mainstream-Musikkanon liefert zugleich das Rohmaterial für die kommerzielle, profitorientierte Musikindustrie, während die Tourismusindustrie auf Nostalgie und der Erinnerung an musikalische Helden, Traditionen und Kanons aufbaut, um Städte oder auch Nationalstaaten wie Österreich zu branden und zu vermarkten. Diese nostalgische Erinnerungspolitik führt häufig auch zu einem Fandom, das in religiösen und spirituellen Zuschreibungen und Kulten rund um Musik und musikalische Helden gipfeln kann, wobei sich einige Fans stark in Brand-Communities engagieren. Darüber hinaus manifestiert sich diese Erinnerungspolitik in Form von Denkmälern, Archiven und Festivals, die den Kanon auf Kosten von Innovation und Vielfalt aufrechterhält und fördert. In dieser Hinsicht verdecken die kanonischen Verwendungen traditioneller Musik als normative und normierende Repräsentationen regionaler und nationaler Kultur – wie zum Beispiel in den Listen des immateriellen Kulturerbes der UNESCO deutlich wird – die Präsenz anderer kultureller Ausdrucksformen, insbesondere jene marginalisierter Gruppen.

Die wissenschaftliche und künstlerische Forschung über Musikheld_innen und -kanons hat dominante Strukturen und Wahrnehmungen von Musik vielfach verstärkt, das Bild des weißen männlichen Komponisten beispielsweise, oder auch die Darstellung bestimmter Musiken als Teile des weltweiten Kulturkanons, die oft tief in kolonialen Vorstellungen und entsprechenden Ethnografien verwurzelt sind. Feministische Kritiken an „Gründervätern“, ihren Anhänger_innen und Nachfolger_innen sowie Untersuchungen, wie und warum Frauen in Kanonisierungsprozessen „verloren gehen“, sind wichtige Diskurse in der aktuellen wissenschaftlichen Debatte geworden. Die Heroisierung von überwiegend weißen, cisgegenderten, männlichen Akademikern korrespondiert mit den von ihnen initiierten Kanonisierungsprozessen. In den ethnografischen Disziplinen hat die Mystifizierung der Feldforschung als heroisches Streben, als mutige Beharrlichkeit, die höchste Ehrungen verspricht, zur Heroisierung des Ethnografen als Retter der jeweiligen Kultur beigetragen.

Bei der diesjährigen isaScience sollen alle diese Themen mit einem besonderen Schwerpunkt auf postkolonialen, feministischen, queeren und klassenbezogenen Analysen kritisch behandelt und diskutiert werden. Wir freuen uns auf Vorträge und Diskussionsbeiträge aus jeder Disziplin, mit jeder Methodik und zu jeder Art von Musik und Tanz, einschließlich der Sphären von Film und Theater.

Heroes, Cults, Canons. Critical Inquiries
Geplante Konferenzdaten: 12.–16. August 2020
Keynotes von Mina Yang (USA), Esteban Buch (Frankreich), Milena Dragićević Šešić (Serbien; angefragt), Denise Gill (USA; angefragt)
Leitungsteam: Dagmar Abfalter, Marko Kölbl, Rosa Reitsamer, Fritz Trümpi
Koordination: Karoline Feyertag und Slavomíra Martišková

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