Im Jahr 1734 befand sich Georg Friedrich Händel in einer besonders kritischen Situation. Als Komponist und Impresario war er für den künstlerischen und wirtschaftlichen Erfolg seiner Opernkompanie verantwortlich, aber die Aussichten waren alles andere als rosig.

Seine bisherige Spielstätte, das King’s Theatre, war an die erfolgreichere Opera of the Nobility verpachtet worden und alle von Händels bisherigen Gesangsstars – mit Ausnahme einer einzigen Sopranistin – waren zu diesem Konkurrenzunternehmen übergelaufen. Zu allem Unglück für Händel hatte der Konkurrenzimpresario Nicola Antonio Porpora auch noch den berühmten Kastraten Farinelli als besondere Attraktion zu bieten. Um mithalten zu können, sah Händel sich gezwungen, im Gegenzug den Kastraten Carestini, Farinellis größten Rivalen, zu engagieren. Im provisorischen Ausweichquartier Covent Garden, einer ehemaligen Schauspielbühne, brachte Händel als erstes neues Werk Oreste heraus. Es handelt sich um keine vollständige Neukomposition, sondern um ein im Barock gebräuchliches Pasticcio, also um eine Zusammenstellung von Arien aus anderen Opern. Im Gegensatz zur gängigen Pasticcio-Praxis, die normalerweise auch Arien anderer Komponisten wiederverwertete, waren in diesem besonderen Fall aber alle Stücke von Händel selbst. Das aus massivem Konkurrenzdruck entstandene „Best-of“ behandelt die Geschichte der Iphigenie auf Tauris nach Euripides und ist somit eine direkte Kampfansage an die Ifigenia in Aulide von Porpora auf der anderen Bühne.

Iphigenie dient auf der Insel Tauris, die vom Tyrannen Toante beherrscht wird, als Priesterin im Tempel der Diana. Sie soll jeden Fremden, der die Insel betritt, der Göttin als Menschenopfer darbringen. Als unerkannt ihr Bruder Orest und nach ihm seine Verlobte Hermione und sein Freund Pylades auf Tauris ankommen, weigert sich Iphigenie, ihr grausames Amt auszuführen. Denn auf geheimnisvolle Weise fühlt sie sich zu dem unbekannten Fremdling hingezogen. Toante besteht jedoch auf der Opferung. Die Situation eskaliert und endet mit der Wiedererkennung der Geschwister und mit der Ermordung des unnachgiebigen Tyrannen.

Trotz des Erfolgs von Händels neuestem Coup endeten alle Anstrengungen beider Opernunternehmen, sich gegenseitig zu übertrumpfen, schon nach wenigen Spielzeiten –Ironie des Schicksals, wie in der griechischen Tragödie – im beidseitigen Bankrott. Das verzweifelte Bemühen um wirtschaftlichen und künstlerischen Erfolg brachte im Fall von Oreste ein außergewöhnlich stringentes, dramatisch geschlossenes Libretto, ohne die üblichen Nebenhandlungen hervor. Händel veredelte das Genre des sonst oft beliebig zusammengewürfelten Pasticcios durch die handverlesene Auswahl seiner besten Arien, denn nur durch höchste Qualität konnte er Nicolo Porpora überbieten. Der Hörer/ die Hörerin erlebt in jedem Fall eine dichte Konzentration gehaltvoller Musik, wie sie selten in anderen Barockopern anzutreffen ist. Wenn zwei sich streiten, freut sich eben auch hier der Dritte.

Die für Ende Jänner an der mdw angesetzte Inszenierung unter der Regie des aus Karlsruhe stammenden Sebastian Welker beschäftigt sich vor allem mit der Problematik der Schuld und der Vergebung in Verbindung mit dem Ego. „Jedem geht es in erster Linie um seinen eigenen Vorteil. Keiner kann dem anderen vertrauen. Daraus resultiert ein Unvermögen in der Kommunikation untereinander. Die ,Insel‘, auf der sich die ProtagonistInnen treffen, repräsentiert eben diese Einsamkeit. Sie ist ein psychologischer Einblick in die Ängste der Menschen auf der Bühne. Das Ego fordert Wertigkeit. Es befeuert Taten, die dann wiederum Schuld und das Verlangen nach Vergebung auslösen. Ein Kreislauf entsteht, den es zu durchbrechen gilt“, erklärt der Regisseur seine Pläne für die Inszenierung an der mdw.

 

Veranstaltungstipp

Mo, 29. & Di, 30. 1. 2018
19.00 Uhr

Oreste von Georg Friedrich Händel
Musikalische Leitung: Christoph U. Meier
Inszenierung: Sebastian Welker
mit der Beethoven Philharmonie

Schlosstheater Schönbrunn
Schönbrunner Schlossstraße 47, 1140 Wien
Tickets unter www.oeticket.com

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