Ethnomusikologische Minderheitenforschung

von Ursula Hemetek

Der Minderheitenschwerpunkt des heutigen Instituts für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie (damals Institut für Volksmusikforschung) wurde 1990 eingerichtet, was damals vor dem Hintergrund der österreichischen Forschungslandschaft im Bereich Volksmusikforschung als durchaus provokant gelten konnte. Er besteht bis heute, allerdings haben sich die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen, Inhalte und fachlichen Zugänge geändert. Dieser Schwerpunkt und die damit in Verbindung stehenden internationalen Diskurse haben dem Institut eine Erweiterung der Agenden gebracht und letztendlich 2001 zur Umbenennung geführt: zur Volksmusikforschung gesellte sich die Ethnomusikologie.

Wie Minderheitenforschung in der Ethnomusikologie funktioniert, ist stark von der Ausrichtung des Faches an sich und seiner Entwicklung geprägt. Frühe Minderheitenforschungen waren entweder von der Suche nach dem „Exotischen“ geprägt, wie Feldforschungen bei den Native Americans (bereits 1889) und Forschungen zur Musik der Roma in Europa (um 1900) oder entsprangen dem nationalistisch inspirierten Ansatz, bei dem Minderheiten außerhalb der eigenen Staatsgrenzen als „bedrohte“ Vertreterinnen der eigenen Nation gesehen werden, wie z.B. in der deutschen Sprachinselforschung (ab 1934) oder bei kroatischen Forschungen bei den Burgendlandkroaten (bereits Ende des 19. Jahrhunderts). ► Publikationsliste Hemetek Ursula.

Vom zaghaften Beginn einer internationalen Etablierung einer moderner ausgerichteten Minderheitenforschung, die weder exotisierend noch nationalistisch vorzugehen versucht, kann man im Fach Ethnomusikologie ab 1985 sprechen. Damals veranstaltete der kroatische Ethnomusikologe Jerko Bezić erstmals eine internationale Konferenz, die im Titel den Begriff „Minderheiten/ethnische Gruppen“ trug. (Pettan, Svanibor. 2012. Music and Minorities. An Ethnomusicological Vignette. In: New Unknown Music. Essays in Honour of Niksa Gligo, edited by Dalibor Davidovič and Nada Bezić. Zagreb: DAF, 447-456).

Da setzte Ursula Hemetek 1987 mit ihrer Dissertation an, und mit ihrer Person hielt auch das Minderheiten-Thema Einzug ins Institut. Sie beantragte ab 1990 eine Reihe von Drittmittelprojekten, die den Minderheitenschwerpunkt etablierten. Die Verankerung in der Lehre erfolgte einige Jahre später.
 

Forschungsprojekte (1990-2020)

1990-1992: Traditionelle Musik von ethnischen Gruppen in Österreich- Roma und Burgenlandkroaten, Forschungsprojekt FWF

1992-1993: Traditionelle Musik der Roma in Österreich, Forschungsprojekt FWF 

1993-1995: Romamusik II, Forschungsprojekt FWF

1996-1997: Lebenszeichen einer bedrohten Kultur (Bosnier in Österreich), Forschungsprojekt Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank, Projektmitarbeiterin: Sofija Bajrektarević

1998-2000: Bosnische Musik, Forschungsprojekt Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank, Projektmitarbeiterin: Sofija Bajrektarević

1999-2001: Feldforschung in der Südsteiermark (steirische Slowenen) gemeinsam mit dem Steirischen Volksliedwerk

2003 Feldforschungsprojekt mit Studierenden zu Musik von MigrantInnen in Salzburg gem. mit Ulrike Kammerhofer-Aggermann

2004: Feldforschungsprojekt mit Studierenden zu Musik der Minderheiten in Innbruck/Tirol gem. mit Thomas Nußbaumer

2004-2006: Musik und Lieder italienischer Migranten in Österreich, Forschungsprojekt, FWF Lise Meitner Post-Doc Programm, Barbara Kostner und Paolo Vinati

2005-2006: Musikalische Aktivitäten von Einwanderern in Wien, Forschungsprojekt Jubiläumsfonds der Stadt Wien, Projektmitarbeiterinnen Sofija Bajrektarević und Hande Sağlam

2007-2009: Projektpartnerschaft in “Embedded industries - immigrant cultural entrepreneurs in Vienna”, Forschungsprojekt WWTF, Projektleitung Andreas Gebesmair, Mediacult, Mitarbeit Hande Sağlam. (Gebesmair, Andreas (Hg.). 2009. Randzonen der Kreativwirtschaft. Türkische, chinesische und südasiatische Kulturunternehmungen in Wien. LIT-Verlag Berlin/Wien).

2009 Feldforschungsprojekt mit Studierenden zur Musik von Einwanderer-Musikkulturen in Vorarlberg gem. mit Evelyn Fink-Mennel und dem Landekonservatorium Feldkirch

2009/2010: “Bi-Musikalität und interkultureller Dialog” gem. mit Hande Sağlam und Noraldine Bailer

2010 Feldforschungsprojekt mit Studierenden in der Burgenlandkroatischen Gemeinde Stinatz

2016-17 Bi-/Mulitmusikalität im Rahmen von Changing mdw, WeiYa Lin

2016 -2018 Musikalische Identifikation von jugendlichen Geflüchteten, Marko Kölbl

2017- Feldforschungsprojkete zur afghanischen Musikszene in Wien, Marko Kölbl


Die Weiterentwicklung über die Jahre zeigt sich allein anhand der Projekttitel, aus der „traditionellen“ wurde „die Musik“ und sukzessive geht es immer mehr um die Bedeutung, die Musik für Menschen hat. Der Minderheitenbegriff wird immer breiter gefasst und die sozio-politische Relevanz der Forschung, die von Anfang an grundgelegt war, tritt weiter in den Vordergrund.

Die internationale fachliche Vernetzung ist sehr erfolgreich und führte 1997 zur Gründung einer eigenen Studiengruppe in der Weltorganisation der Ethnomusikologie, der ICTM. Bis zur Übernahme des ICTM Generalsekretariats wurde die Studiengruppe „Music and Minorities” wurde von Ursula Hemetek geleitet, seit 2017 leitet Svanibor Pettan die Study Group, Sekretärin ist Hande Sağlam. Die Study Group hat über 200 Mitglieder aus allen Kontinenten. Es werden im Abstand von 2 Jahren Fach-Konferenzen mit internationaler Beteiligung organisiert.

Die Sammlung an AV-Dokumenten aus Feldforschungen im Minderheitenbereich seit den 1990er Jahren stellt einen wichtigen Wissensspeicher für Forschungsprojekte aber auch für die Communities selbst dar. Die Digitalisierung und Erschließung der Aufnahmen erfolgt laufend im Rahmen von Archivis Pro.

Durch die Verleihung des Wittgensteinpreises 2018 an Ursula Hemetek wurde die nationale und internationale Reputation der ethnomusikologischen Minderheitenforschung wesentlich vergrößert. Eine nachhaltige institutionelle Verankerung geschah durch die Gründung des Music and Minorities Research Center, das eng mit dem Institut zusammenarbeitet.